Kunst

Niederknien vor dem sezierten Seelenzustand

© Mirjam Devriendt

Skulptur der klassischen Moderne trifft Kreatur der Gegenwart: Wilhelm Lehmbruck und Berlinde De Bruyckere im Leopold Museum.

Von Ivona Jelcic

Wien –Es gibt einen Raum, in dem die Geschöpfe, Gefühle und auch Zeiten effektvoll aufeinandertreffen: Wilhelm Lehmbrucks dunkel leidende Körper, Berlinde De Bruyckeres Kreaturen aus wächsern-blassem Fleisch. Man steht hier an einer Schnittstelle der aktuellen Doppelausstellung zu Skulptur der klassischen Moderne und jener der Gegenwart, mit der – so viel sei vorweggenommen – der neue museologische Direktor des Wiener Leopold Museums, Hans-Peter Wipplinger, einen beeindruckenden Start hingelegt hat.

Wobei die viel zentraleren Schnittstellen eigentlich anderswo herausgearbeitet werden, nämlich vorrangig in der Lehmbruck-Retrospektive, die die bisher umfassendste Schau des deutschen Bildhauers (1881–1919) in Österreich ist. Und in der auch dem „Hausherrn“ Egon Schiele eine tragende Rolle beigemessen wird. Nicht ohne historischen Anknüpfungspunkt: Der deutsche Mäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus hatte bereits 1912 in seinem Hagener Folkwang Museum Schiele und Lehmbruck in einer Doppelausstellung gezeigt. Zweifellos verbindet beide die expressionistische Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leiden, der gebeutelten Existenz – es war längst wieder einmal an der Zeit, das auch zu zeigen.

In Lehmbrucks künstlerischen Anfängen begegnet man zunächst freilich einer klassisch-konventionellen Skulpturensprache. Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen: Sie wird sich spätestens mit der „Knienden“ von 1911, die auch Lehmbrucks künstlerischen Durchbruch bedeutet, radikal verändert haben. Zeitgenossen wie Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach, Weggefährten aus Lehmbrucks Zeit in Paris von Rodin bis Maillol begleiten diesen Weg in der Ausstellung.

Eine unerfüllte Liebe, nämlich zur Wiener Schauspielerin Elisabeth Bergner, wird auch anhand von Werken Lehmbrucks aufgerollt. Vor allem aber ist es auch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die seine Suche nach einem neuen Menschenbild beeinflusst: Es kommt mit stark überlängten Gliedmaßen daher, ist Ausdruck eines Seelenzustands wie bei „Gestürzten“ (1915), einer Ikone der Skulpturengeschichte. Entworfen hat Lehmbruck ihn für ein Kriegsdenkmal, er wurde aber abgelehnt.

Von den Nazis wurde Lehmbrucks Kunst als entartet eingestuft. Für Joseph Beuys waren sie, wie dieser bei der Überreichung des Lehmbruck-Preises 1986 an ihn kundtat, ein Grund und Antrieb, sich mit der Plastik auseinanderzusetzen.

Und so trifft man in der Schau auch auf Werke des maßgeblichsten deutschen Bildhauers nach 1945. Die jüngere Vergangenheit bereitet auch dem Zeitgenössischen den Boden: Von der aus Gent stammenden Berlinde De Bruyckere, die 2013 eindrücklich den belgischen Pavillon auf der Venedig-Biennale bespielte und 2014 in einer unter die Haut gehenden Ausstellung im Kunsthaus Bregenz vorgestellt wurde, wird er auf unheimliche Weise beackert. Existenzielle Fragestellungen werden bei De Bruyckere zu einem notwendigen Schaudern, etwa wenn sie den geschundenen, gealterten Körper ins Exil von Schaukästen schickt.

Fragmentierte Leiber, mit Haut überzogene Pferdetorsi, wächsernes Treibgut sind De Bruyckeres Material, aus dem sie seelische Wunden genauso wie Reste christlicher Ikonographien und aktuelle Medienbilder hervorkratzt.