Austritt vor dem Beitritt? Erdogan und das „hässliche Gesicht“ der EU

Ankara (APA/dpa) - Seit der britische Premierminister David Cameron einen EU-Beitritt der Türkei frühestens im Jahr 3000 verortet hat, sind ...

Ankara (APA/dpa) - Seit der britische Premierminister David Cameron einen EU-Beitritt der Türkei frühestens im Jahr 3000 verortet hat, sind Ideen aus London in Ankara eigentlich nicht besonders angesagt. Der Idee des „Brexit“-Referendums scheint Präsident Recep Tayyip Erdogan dann aber doch etwas abgewinnen zu können.

Nachdem die EU sein Land seit Jahrzehnten vor der Tür stehen lässt, erwägt Erdogan nun, den Spieß umzudrehen. Die Türken könnten es „wie die Engländer“ machen, sagt er - und ein Referendum darüber abhalten, ob sie die EU-Beitrittsgespräche überhaupt noch fortsetzen wollen.

Die Idee für eine Volksabstimmung über eine Art Austritt vor dem Beitritt lanciert Erdogan am Mittwochabend bei einer seiner Ansprachen zum Fastenbrechen. In diesem Jahr tritt der Staatschef während des Ramadan so gut wie jeden Abend auf, und versöhnlich sind seine Botschaften in dem für Muslime heiligen Fastenmonat kaum: Er schimpft auf deutsch-türkische Abgeordnete, auf Gezi-Demonstranten und auf andere potenzielle Kontrahenten. Diesmal ist die EU dran.

Hintergrund ist das Flüchtlingsabkommen, das zu einer veritablen Bedrohung für die türkisch-europäischen Beziehungen mutiert ist. Verkürzt besagt der vom Scheitern bedrohte Deal, dass die Türkei Flüchtlinge zurücknimmt und ihre Bürger dafür Visumfreiheit bekommen. Um diese Visumfreiheit sieht sich Erdogan geprellt. Die Vorlage für Erdogans jüngsten Wutausbruch lieferte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der der „FAZ“ (Mittwoch) sagte: „Falls jedoch Herr Erdogan ernsthaft versucht, das Abkommen zu brechen, dann wird es seine Aufgabe sein, den Türken zu erklären, weshalb sie nicht in den Genuss von Reisefreiheit nach Europa kommen.“

Erdogan wäre nicht Erdogan, ließe er das auf sich sitzen. „Ey Präsident, Du kennst das türkische Volk nicht“, lässt er Juncker wissen. Weder auf Visumfreiheit noch auf das Rücknahmeabkommen seien die Türken angewiesen. „Der Herr Kommissionspräsident soll in Wahrheit darüber nachdenken, wem und wie er das erklären soll, wenn in so einem Fall Millionen Flüchtlinge vor Europas Türen stehen.“

Die Europäer seien „wortbrüchige Menschen“, schimpft Erdogan. „Eben das ist euer hässliches Gesicht. Weil Erdogan dieses hässliche Gesicht entlarvt, dreht Ihr durch. Deshalb fragt Ihr euch: „Wie werden wir Erdogan los“.“

Zwar betreibt die EU nicht die Ablösung Erdogans, der mindestens bis zum hundertsten Geburtstag der Republik im Jahr 2023 im Amt bleiben und nebenbei die eigene Macht deutlich ausbauen möchte. Allerdings nimmt unter EU-Politikern die Irritation über den Präsidenten rasant zu. Besonders in Berlin ist das der Fall: Kaum ein Tag vergeht ohne neue Empörung. Zwar ist Erdogan generell nicht für seine zurückhaltende Art bekannt. Das Ausmaß seiner Wut über die Völkermordresolution des deutschen Bundestags zu den Massakern an den Armeniern hat aber selbst langjährige Beobachter des Präsidenten überrascht.

Türkischstämmige Bundestagsabgeordneten beschuldigte Erdogan, „Sprachrohr“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Dann stellte Erdogan in Frage, ob die Abgeordneten des Türkentums überhaupt würdig seien - und forderte: „Ihr Blut muss durch einen Labortest untersucht werden.“ Erdogans Sprecher verkündete, als Reaktion auf die Völkermordresolution arbeite die Türkei an einem „Aktionsplan“ gegen Deutschland.

Ob es einen solchen Aktionsplan wirklich geben wird, ist unklar. Bisher scheint die Türkei eher eine Politik der Nadelstiche zu verfolgen. Etwa dann, wenn der deutsche Generalkonsul in Istanbul nicht zu den Absolventen einer Eliteschule sprechen darf, die mit deutschen Steuergeldern gefördert wird. Und der nächste Eklat ist schon perfekt: Diesmal geht es um die deutschen Soldaten auf der Luftwaffenbasis Incirlik in der Südtürkei.

Erst vor rund zwei Wochen hatten die türkischen Behörden deutschen Korrespondenten einen lange geplanten Besuch bei der Truppe in Incirlik im letzten Moment verwehrt. Jetzt hat die Türkei noch nachgelegt: Auch der deutsche Verteidigungsstaatssekretär Ralf Brauksiepe (CDU) darf die deutschen Soldaten dort nicht besuchen.

Außenminister Mevlüt Cavusoglu macht am Donnerstag deutlich, dass auch andere deutsche Bundespolitiker eine solche Visite gar nicht erst planen sollten. Deutsche Soldaten dürften zwar auf den Stützpunkt. Cavusoglu fügt aber hinzu: „Zu diesem Zeitpunkt werden die Besuche solcher Delegationen, die nicht militärisch sind, und besonders von Politikern auf der Basis Incirlik nicht als passend erachtet.“