Votum für den Brexit löst politisches Erdbeben in Europa aus
Wien/Brüssel (APA/AFP/dpa/) - Politisches Erdbeben in der Europäischen Union: In einem historischen Referendum haben die Briten für den Aust...
Wien/Brüssel (APA/AFP/dpa/) - Politisches Erdbeben in der Europäischen Union: In einem historischen Referendum haben die Briten für den Austritt aus der EU gestimmt und damit politische und wirtschaftliche Turbulenzen ausgelöst. 51,9 Prozent votierten für den Brexit, wie die Behörden am Freitag mitteilten. Premierminister David Cameron zog die Konsequenzen und kündigte seinen Rücktritt an.
Europäische Politiker aller Coleur nahmen das Ergebnis der Volksabstimmung zum Anlass, um erneut Reformen der EU zu fordern. Viele, darunter EU-Ratspräsident Donald Tusk, der den Willen zur Einheit der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten bekräftigte.
Insgesamt sprachen sich 17,4 Millionen Briten für den Brexit aus, wie die Behörden nach Auszählung sämtlicher 382 Wahlbezirke mitteilten. 16,1 Millionen Menschen und damit 48,1 Prozent stimmten dagegen für den Verbleib in dem Staatenbund. Großbritannien ist demnach damit das erste Land, das die EU verlässt. Insgesamt 46,5 Millionen Bürger hatten sich für das Referendum registriert - 72,2 Prozent von ihnen gaben ihre Stimme ab.
EU-Befürworter Cameron kündigte in einer emotionalen Rede seinen Rücktritt bis Oktober an. Ein neuer Regierungschef müsse den Austrittsprozess leiten, sagte er vor seinem Amtssitz in London. Er werde in den kommenden Monaten „das Schiff stabilisieren“, doch wolle er bis Anfang Oktober die Regierungsführung abgeben. Dies bedeutet, dass die Austrittsverhandlungen mit der EU weitgehend ohne Cameron stattfinden.
Der scheidende Premierminister betonte weiters, es werde für die in Großbritannien lebenden EU-Ausländer keine unmittelbaren Konsequenzen geben. Sie könnten weiter als EU-Bürger in Großbritannien leben. Auch für die Reisetätigkeit und für Import und Export von Waren gebe es keine schnellen Änderungen.
Jubel herrschte bei den Brexit-Anhängern. Rechtspopulist Nigel Farage von der Unabhängigkeitspartei UKIP sprach von einem „Sieg für die einfachen Leute“. Er forderte eine „Brexit-Regierung“. „Wir haben eine scheiternde politische Union zurückgelassen“, sagte Farage mit Blick auf die EU. „Die EU versagt, die EU stirbt“, frohlockte er.
Auch dem Vereinigten Königreich selbst könnte ein Zerfall drohen. In Schottland und Nordirland bekommen Separatisten Aufwind, die für eine Abspaltung von Großbritannien sind und in der EU bleiben wollen. Bei dem Referendum hatten Schotten und Nordiren mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert.
Nach dem Brexit-Votum ist die Sorge vor einem Erstarken von Nationalisten und Rechtspopulisten in vielen EU-Hauptstädten groß. In den Niederlanden forderte der Rechtspopulist Geert Wilders sofort ein „Nexit“-Referendum für sein Land. Ähnlich äußerte sich die Chefin der rechtsextremen französischen Partei Front National (FN), Marine Le Pen, für ihr Land.
Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) sieht die Gefahr eines Domino-Effekts nicht. Zwar werde es natürlich politische Kräfte geben, die ein ähnliches Referendum auch hierzulande fordern werden, so der Kanzler, ein solches Szenario mache für ihn aber „keinen Sinn“, sagte er vor Journalisten in Wien. Durch das Resultat des Brexit-Referendums in Großbritannien werde Europa geschwächt und verliere international an Stellung sowie an Bedeutung, kritisierte er. Nun gehe es darum, die negativen Auswirkungen so gering wie möglich zu halten und die EU zu reformieren, meinte Kern unter Verweis auf eine wirtschaftliche und sozial verträgliche Entwicklung.
Auch in Brüssel begann eine Debatte über die Zukunft der EU. Tusk betonte, er könne im Namen der verbleibenden EU-Mitglieder sagen, dass diese entschlossen seien, „unsere Einheit zu 27 zu erhalten“. Das Austrittsvotum der Briten sei „ein historischer Moment, aber sicherlich keiner für hysterische Reaktionen“. Tusk kündigte an, dass die Staats- und Regierungschefs am Rande des EU-Gipfels kommende Woche ohne Großbritannien beraten würden. Dabei gehe es auch „um eine breitere Überlegung über unsere Union“. Für Dienstag hat das EU-Parlament eine Sondersitzung einberufen.
Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz äußerte sich beschwichtigend. Er fürchtet keine weiteren Austritte aus der EU. „Die Kettenreaktion wird es nicht geben“, sagte Schulz im ZDF-“Morgenmagazin“. Zur Begründung verwies er unter anderem auf die negativen Reaktionen von Wirtschaft und Börse auf den Brexit.
Das Pfund verlor gegenüber dem Dollar deutlich. Wie praktisch alle Börsen weltweit hat der ATX heute kurzfristig massiv - rund zehn Prozent - verloren. Der Deutsche Aktienindex (Dax) verlor in der Früh 9,94 Prozent, die Börse in London startete mit einem Minus von 7,5 Prozent. In Paris rutschten die Kurse um fast acht Prozent ab.
Schulz rechnete mit dem raschen Beginn der EU-Austrittsverhandlungen. Großbritannien muss nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages die EU über den Austritt offiziell informieren. Dann beginnt eine zweijährige Frist zur Entflechtung der Beziehungen. Auch der Chef der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, plädierte für zügige Austrittsverhandlungen mit der EU.
Cameron hatte das Referendum bereits 2013 vorgeschlagen - vor allem mit dem innenpolitischen Kalkül, EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen. Diese Rechnung ging nicht auf. Zahlreiche Warnungen von Politikern aus der ganzen Welt, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von Wirtschaftsverbänden verhallten ungehört.
Brexit-Wortführer Boris Johnson, ein parteiinterner Rivale Camerons, argumentiert stattdessen, ein Austritt würde Londons Abhängigkeit von Brüssel beenden und dem Land seine Souveränität zurückgeben. Er sprach von einem „Unabhängigkeitstag“ für Großbritannien. Johnson gilt bei Buchmachern als Favorit für die Nachfolge von Regierungschef David Cameron.