Brexit - Bürger zeigten der EU erstmals die rote Karte
Wien (APA) - „Wir lecken unsere Wunden, aber wir haben Routine dabei.“ Was Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) zum EM-Fiasko Österreichs gesa...
Wien (APA) - „Wir lecken unsere Wunden, aber wir haben Routine dabei.“ Was Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) zum EM-Fiasko Österreichs gesagt hat, trifft auch auf die Performance der EU bei Volksabstimmungen zu. Das verlorene Brexit-Referendum ist das jüngste in einer Serie, die 1992 in Dänemark begann. Doch es ist das erste Mal, dass die Stimmbürger der EU nicht nur die gelbe, sondern die rote Karte zeigen.
Vom Ergebnis her ist das knappe Nein der Briten zur EU-Mitgliedschaft keine besondere Überraschung, im Gegenteil. Es handelt sich um die vierte Volksabstimmung innerhalb eines Jahres, die mit einem negativen Ergebnis für die Europäische Union endet. Die Niederländer votierten im April mit 61 Prozent gegen das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen, die Dänen lehnten im vergangenen Dezember eine engere Justiz- und Polizeikooperation mit 53 Prozent der Stimmen ab. Die Griechen sagten, angestachelt von ihrem linkspopulistischen Regierungschef Alexis Tsipras, im Juli des Vorjahres mit 61,3 Prozent „Oxi“ zu den Bedingungen für weitere Euro-Finanzhilfe.
Im Umgang mit solchen direktdemokratischen Ohrfeigen hat die Europäische Union schon einige Routine entwickelt. Schließlich sind seit den 1990er Jahren zahlreiche Integrationsschritte von den Stimmbürgern aufgehalten worden. Elf von 20 europapolitischen Referenden im vergangenen Vierteljahrhundert endeten mit einer Niederlage für das „EU-Establishment“.
Die Dänen stoppten im Jahr 1992 den Vertrag von Maastricht, die Iren schickten die Verträge von Nizza (2001) und Lissabon (2008) in die Warteschleife, der Euro-Beitritt wurde in Dänemark (2000) und Schweden (2003) mit satten Mehrheiten verworfen. Europaweite Konsequenzen hatte nur das Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung im Jahr 2005. Ausgerechnet jenes Vertragswerk, das die EU nach der großen Osterweiterung demokratischer und handlungsfähiger machen sollte, wurde nach den beiden negativen Volksabstimmungen ad acta gelegt.
Doch zeigt ein Blick nach Dänemark und Irland, dass die Stimmbürger bisher davor zurückschreckten, die EU-Mitgliedschaft ihrer Länder als solche aufs Spiel zu setzen. In beiden Ländern wurden die zunächst abgelehnten EU-Verträge jeweils im darauffolgenden Jahr im zweiten Anlauf angenommen, weil die anderen Mitgliedsstaaten klar gemacht hatten, dass sie bei einem weiteren Nein alleine voranschreiten würden. So konnten die Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon dann doch in Kraft treten.
Auf die Neigung der Bürger, keine Risiken einzugehen, hatten vor dem Brexit-Referendum auch die britischen EU-Befürworter gesetzt. So appellierte Premierminister David Cameron an seine Landsleute, im Zweifel lieber für die EU-Mitgliedschaft zu stimmen, weil nach einem Brexit ein „großer Sprung in die Dunkelheit“ wäre.
Doch der Wunsch der Briten nach Veränderung war offenbar größer als der bei Volksabstimmungen oft beobachtete „Status Quo Bias“. Dieser hatte sich unter anderem beim ersten britischen Europa-Referendum besonders deutlich gezeigt. Mit 67,2 Prozent stimmten die Briten am 5. Juni 1975 überraschend klar für den Verbleib in der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG). Vor dem Referendum war ein knappes Rennen erwartet worden, zumal der damalige Labour-Premierminister Harold Wilson ebenso wie Cameron gegen ein starkes europaskeptisches Lager in der eigenen Partei ankämpfen musste. Viele Labour-Politiker wollten den unter konservativer Führung im Jahr 1973 erfolgten EG-Beitritt Großbritanniens rückgängig machen.
Großbritannien ist somit der einzige Staat, der - nun bereits zum zweiten Mal - über die aufrechte EU-Mitgliedschaft abgestimmt hat. Beitrittsreferenden waren bisher praktisch eine „Bank“. Einzig die Norweger stimmten - ebenfalls zwei Mal (1972 und 1994) - gegen den EG- bzw. EU-Beitritt.
Die restlichen 16 Beitrittsreferenden ergaben zum Teil überwältigende Ja-Mehrheiten. Zuletzt votierten die Kroaten im Jänner 2012 mit 66,3 Prozent für den EU-Beitritt. Rekordhalter sind die Slowaken mit 93,7 Prozent im Jahr 2003. Ein Wert, der wohl noch längere Zeit unerreicht bleiben wird. Auch bei EU-Austrittsreferenden, von denen nach der „roten Karte“ der Briten wohl noch einige zu erwarten sind.