Internationale Pressestimmen zum Brexit

London (APA/dpa) - Die internationalen Zeitungen schrieben am Samstag zum Brexit:...

London (APA/dpa) - Die internationalen Zeitungen schrieben am Samstag zum Brexit:

„Financial Times“ (London):

„Die Austritts-Befürworter haben nie konkret gesagt, ob sie danach für die weiteren Beziehungen zu Großbritanniens wichtigsten Handelspartnern in der EU ein Modell nach dem Vorbild Norwegens, der Schweiz, Kanadas, Albaniens oder eine weitere Alternative bevorzugen. Jedes dieser Modelle wird zu einer Verwässerung der lockeren Versprechungen der Leave-Kampagne führen. Welches wird für die Wähler akzeptabel sein? (...)

Niemand sollte bezweifeln, dass Großbritannien ein unverwüstliches und erfinderisches Land ist, das schon viele Stürme überstanden hat. Mit der Zeit wird sich die Wirtschaft anpassen und Großbritannien wird einen neuen, wenngleich verminderten, Platz in der Welt finden. Die beste Hoffnung, die diese Zeitung glühend teilt, besteht darin, dass das Vereinigte Königreich engagiert und offen sowie im besten Sinne pro-europäisch bleibt. Das ist der Weg in die Zukunft.“

„Neue Zürcher Zeitung“:

„Eine offene Debatte über den Zweck und die Verfassung der Europäischen Union ist überfällig. Sie ist die einzige Chance, die in allen Teilen Europas wachsende Schar der Euroskeptiker und EU-Hasser für die gemeinsame Idee zurückzugewinnen. Dabei weisen die ursprünglichen Wünsche der Briten vor dem Referendum einen möglichen Weg: Das in den Römer Verträgen von 1957 und der Präambel des Maastricht-Vertrags von 1992 stehende Ziel einer „immer engeren Union“ ist aufzugeben. Sie ist kein Selbstzweck. Eine neue identitätsstiftende Vision ist nötig. Realistischer wäre etwa eine Union mit vielfachen Integrationskreisen, die möglichst allen Mitgliedern jene Schritte und Geschwindigkeiten ermöglicht, die ihre Bürger wünschen. Mit dem Nebeneinander von Schengen-Raum, an dem sogar die Nichtmitglieder Schweiz und Norwegen teilhaben, Dublin-Abkommen, Euro-Zone, Übergangsbestimmungen für Neumitglieder und diversen Opt-outs aus verschiedenen Vertragswerken geht die EU bereits jetzt einen pragmatischen Weg des Miteinanders von Mitgliedern mit oft ganz unterschiedlichen Interessen. Er könnte zur neuen Normalität werden.“

„Tages-Anzeiger“ (Zürich):

„‘Keine Neuverhandlungen‘, hat EU-Präsident Jean-Claude Juncker am Vorabend der Brexit-Abstimmung angekündigt. Anders die EU-Bevölkerung. Diese will laut Umfrage mehrheitlich, dass man den Briten ein Freihandelsabkommen anbietet und zur Tagesordnung übergeht. Aber das ist nur möglich, wenn nach Cameron auch Juncker, Symbol des Europa-Apparats, rasch abtritt und einem jüngeren Hoffnungsträger Platz macht. In England soll Boris Johnson Premierminister werden und beweisen, dass es seinem Land außerhalb der EU besser geht.

Das wäre die angemessene Reaktion. Die wirtschaftlichen Folgen des Brexit müssen - bei kluger Politik - nicht gravierend sein. Der Schweiz und Norwegen geht es gut, obwohl beide Länder nicht EU-Mitglieder sind. Und die Bankaktien sind auch schon aus anderen Gründen an der Börse durchgefallen. Wenn die EU es schafft, den Leuten zuzuhören und ihre Dogmen auch bei der Personenfreizügigkeit zu hinterfragen, dann hat das Friedensprojekt weiterhin die besten Chancen. Eine Alternative gibt es nicht, denn sonst zerfällt die EU, und wir sind zurück in der Unsicherheit der Nachkriegszeit(...).“

„NRC Handelsblad“ (Amsterdam):

„Die Europäische Union hat vernünftig auf das Ergebnis des Referendums reagiert, mit dem die Großbritanniens Mitgliedschaft in der Union beendet wird: entschlossen, aber nicht auf Rache sinnend. Daran ist zu erkennen, dass bezüglich des Umgangs miteinander mehr als ein halbes Jahrhundert der Zusammenarbeit auf jeden Fall eine positive Wirkung hatte - verglichen mit früheren Episoden der europäischen Geschichte.

Die Chefs der drei EU-Organe - der Kommission, des Parlaments und des Rates - rufen das Vereinigte Königreich in einer gemeinsamen Erklärung auf, zügig das formelle Scheidungsgesuch einzureichen. Zu recht macht die Union klar, dass die Periode der Unsicherheit nicht unnötig in die Länge gezogen werden sollte. Erste Reaktionen der britischen Seite legen allerdings nahe, dass man mit dem nächsten Schritt keine Eile hat. Das mag vielleicht für das Vereinigte Königreich gelten, aber nicht für den Rest der Europäischen Union. Sie muss da nun durch und das kann sie nur, wenn Klarheit über die neuen Verhältnisse nach dem Brexit besteht.“

„De Tijd“ (Antwerpen):

„Der vom Brexit aufgewirbelte Staub muss sich erst noch legen. Aber bereits jetzt ist deutlich, dass es um mehr geht, als nur um ein britisches Phänomen. Auch anderswo in Europa ist das Misstrauen gegenüber der EU groß. Die Unfähigkeit, Antworten zu finden auf die Migration und die Eurokrise hat mit dazu beigetragen. Das ist an sich nicht neu, jedoch wurde nun eine Grenze überschritten. Selbst auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise war die europäische Maschine nie in den Rückwärtsgang geschaltet worden. (...)

Nun kommt es darauf an, eine echte Debatte zu führen statt zu polarisieren, die erhitzen Gemüter zu beruhigen, neu über die EU nachzudenken und auf diese Weise erneut eine breitere Unterstützung der Bevölkerung zu erlangen. Und die Vernunft über leeres Gefasel triumphieren zu lassen.“

„Frankfurter Allgemeine Zeitung“:

„Dass unter den im 21. Jahrhundert herrschenden Verhältnissen ein Staat aus einer ‚splendid isolation‘ heraus den Interessen seiner Bürger, seiner Jugend, seiner Wirtschaft besser dienen kann als in einer Gemeinschaft wie der EU, ist wenig wahrscheinlich. Großbritannien wagt nun dieses hochriskante Experiment. Wenn es der EU, wie von der Kanzlerin gefordert, gelingt, Ruhe und Geschlossenheit zu bewahren, lassen sich beide Modelle miteinander vergleichen. Dann könnten eines Tages die Ansichten noch einmal wechseln, was Traum ist und was Albtraum. Immer aber wird Europa nur das sein können, was es nach dem Willen seiner Völker sein soll. Die Wege, die unter Berufung auf ihn beschritten worden sind, haben, wenn nicht in den Himmel, so doch in einmalige Höhen geführt. Aber auch schon in die tiefste Hölle.“