Brexit

Tiroler in Großbritannien: „Die Ruhe vor dem Sturm“

"Ruhig bleiben und weitermachen" – so lautet das Credo vieler Briten.
© Pixabay / TT

„Sehr britisch“ reagieren die Menschen auf den Brexit. Aber wie geht es den Auslandsösterreichern in Großbritannien? Zwei Tiroler erzählen, wie sie die Zeit vor und nach der Brexit-Abstimmung erlebt haben und ob sie sich überhaupt noch Willkommen fühlen.

Innsbruck/London – Die Tage vor dem 24. Juni waren trüb und regnerisch. Am Schwarzen Freitag strahlte die Sonne über Großbritannien. Nach dem Brexit-Votum stehen den Briten jedenfalls stürmische Zeiten bevor. „Noch ist es recht ruhig“, beschreibt Daniel Stocker (25) die Stimmung im Land. Diese „Keep calm and carry on“-Mentalität sei typisch für die Briten, weiß der Tiroler, der seit fünf Jahren in London lebt.

„Es ist schlimm, aber wir müssen das Beste daraus machen – und zwar schnell“, zeigt er sich vor allem im Hinblick auf die Wirtschaft besorgt. „Je länger gewartet wird, desto schlimmer wird es.“ Der 25-Jährige sieht ein großes Risiko in der nicht vorhandenen Exit-Strategie. Weil niemand – nicht einmal das Brexit-Lager selbst – diese Entscheidung erwartet hat, gibt es im Moment noch keinen konkreten Plan für den Austritt aus der EU. „Ungewissheit schadet der Wirtschaft und wird kurzzeitig einen Währungsverfall und eine Rezession nach sich ziehen“, ist er sich sicher.

„Pro-EU-Kampagne war zu negativ“

Er selbst kann den Ausgang des Referendums verstehen. Die Argumente des Pro-EU-Lagers seien so schwach gewesen, dass das Austrittslager nach und nach mehr Zuspruch fand. „Die Kampagne der Brexit-Fraktion war nicht herausragend, aber stärker und positiver“, sagt Daniel. „Die „Remain“-Seite redete den Briten nur ein, wie schlecht es ihnen ohne die EU geht.“ Der Panikmache bedienten sich beide Seiten. Der Populismus habe gesiegt.

Dass sich die Briten über die populistische Propaganda von „Remain“ und „Leave“ hinaus mit der Thematik befasst haben, bezweifelt Kristina Raggl (22). Die Imsterin schließt im Sommer ihr Studium in London ab und steigt dort auch Ende August ins Arbeitsleben ein. „Das Interesse war sicher da, die Bereitschaft, sich zu informieren, eher weniger“, lässt sie den Wahlkampf Revue passieren. Dieser Meinung ist auch Daniel. „Die Leute haben mich teilweise Sachen gefragt, da konnte ich nur den Kopf schütteln. Deren einzige Sorge war, nicht mehr beim Eurovision Song Contest oder in der Champions League mitmachen zu können.“

Farage bricht größtes Brexit-Versprechen

Diese Unwissenheit haben vor allem die EU-Gegner zu ihrem Vorteil genutzt. So hat das „Leave“-Lager rund um den Rechtspopulisten Nigel Farage behauptet, Großbritannien schicke wöchentlich 350 Millionen Pfund nach Brüssel. Das zentrale Wahlversprechen war, diese Summe ins staatliche Gesundheitswesen zu investieren. Das könne er nicht garantieren, sagte Farage einen Tag nach dem Referendum im Frühstücksfernsehen. „Die Zahl war falsch, das Versprechen ein Fehler“, räumte er ein und distanzierte sich gleichzeitig davon. (Das Video finden Sie weiter unten im Artikel.)

Der mit falschen Fakten beklebte Kampagnen-Bus fuhr wochenlang durch Großbritannien.
© AFP

Nicht erst seit Farages Auftritt machte sich Katerstimmung breit. Nach Schließung der Wahllokale interessierten sich viele Briten dann doch für die möglichen Folgen eines EU-Austritts. Die Google-Suchanfragen schnellten nach oben. Auf den großen Brexit-Rausch folgte die nüchterne Realität.

Viele wollen den Exit vom Brexit. Eine Online-Petition, die ein zweites Referendum fordert, haben bereits knapp vier Millionen Menschen unterschrieben. Auch das sei „sehr britisch“, meint Daniel. Schon im 17. Jahrhundert haben die Engländer ihren König geköpft, die Monarchie abgeschafft und eine Republik errichtet. Wenige Jahre später bereuten sie diese Entscheidung und England war wieder ein Königtum. „Die Stimmung wird sich wieder mäßigen. Das ist in der britischen Kultur verankert“, ist sich Daniel sicher.

Laut Google sollen nach dem Brexit-Votum ungewöhnlich viele Menschen nach "Was passiert, wenn wir die EU verlassen?" gegoogelt haben. Hoch im Kurs war auch die Frage "Wie bekomme ich einen irischen Pass?".

Er wünscht sich einen guten Deal mit der EU: „Ich hoffe, dass das Land ähnlich wie Norwegen oder die Schweiz Zugang zum gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum erhält. Das ist der einzige Weg, die Wirtschaft stabil zu halten. Auch, wenn das Ausstiegslager das nicht wahrhaben will.“ Kristina befürchtet, das Großbritannien nicht gut wegkommt. „Die EU wird wohl kaum ein Exempel bestimmen, das positive Folgen eines EU-Austritts suggeriert“, glaubt die 22-Jährige. Für das Land werde sich einiges ändern, „manches zum positiven und vieles zum negativen.“

„Sie können uns nicht alle ausweisen“

Aber will man in einem Land, das sich für Abgrenzung und Isolation ausgesprochen hat, überhaupt noch leben? „Ich bin definitiv nicht froh über das Ergebnis, aber ich will in England leben weil ich dieses Land liebe,“ sagt Daniel. Er fühle sich immer noch genauso Willkommen wie zuvor, daran werde sich auch nichts ändern. Er glaube auch nicht, dass die Menschen für Abgrenzung gestimmt haben. „Die gezielte Angstmache hat einfach gefruchtet, vor allem bei den älteren Wählern.“ Mit den Konsequenzen leben müssen aber die Jüngeren. Diese haben sich auch mehrheitlich gegen den Brexit ausgesprochen. „Da fühlt man sich schon ein bisschen machtlos, aber so funktioniert Demokratie“, sagt der Tiroler.

Sadiq Khan, seit Anfang Mai Bürgermeister von London, hat sich noch am selben Tag auf Facebook geäußert und versichert: „Alle Europäer, die in London leben, sind hier Willkommen.“ Noch ist nicht sicher, wie es mit den „Ausländern“ in Großbritannien weitergeht. Daniel geht davon aus, dass auch Menschen ohne Staatsbürgerschaft die Chance haben werden, auf Langzeit zu bleiben – solange sie arbeiten. „Wir zahlen ja mehr in das System ein, als wir unterm Strich herausbekommen. Mehr als eine Million Arbeitskräfte einfach auszuweisen, wäre kontraproduktiv.“ Kristina ist trotz ihres baldigen Jobantritts flexibel, wo sie in zwei Jahren leben wird. So lange wird es wohl noch dauern, bis die EU und Großbritannien auf einen grünen Zweig kommen. „Wirtschaftlich gesehen ist das Arbeiten hier in Zukunft wohl nicht lukrativ“, befürchtet sie.

In Daniels Arbeitsleben wird sich vorerst nichts ändern. Sein Arbeitgeber Microsoft hat sich bekanntlich für einen EU-Verbleib ausgesprochen – und gleichzeitig die Arbeitsplätze garantiert. Die IT-Branche habe den Vorteil, immer irgendwie über die Grenzen hinweg zu verkaufen. Die Option, England zu verlassen, hält er sich aber offen: „Ich möchte mir die genauen Auswirkungen des Brexits ansehen, bevor ich mir überlege, mich für Jobs in anderen Ländern zu bewerben.“

Daniel und Kristina sind zwei von rund 25.000 Österreichern, die sich für ein Leben in Großbritannien entschieden haben. Im September lebt Daniel fünf Jahre im Vereinigten Königreich. Dann kann er die britische Staatsbürgerschaft bekommen. Das war immer sein Ziel, daran ändere auch ein Brexit nichts: „Jetzt drängt die Zeit, den Prozess abzuschließen, nur etwas mehr als zuvor.“ (tst)

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