Der Druck auf Merkel wächst
Die goldenen Jahre der deutschen Kanzlerin sind vorbei. Trotzdem muss Angela Merkel wohl vorerst nicht um ihr Amt fürchten.
Von Floo Weißmann
Berlin –Was die reinen Zahlen angeht, mag die Niederlage der deutschen Christdemokraten (CDU) am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern nicht besonders dramatisch erscheinen. Doch das Ergebnis in der Provinz an der Ostseeküste birgt Symbol- und damit politische Sprengkraft.
Erstmals bei einer Wahl ist die CDU von Kanzlerin Angela Merkel hinter die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ (AfD) zurückgefallen. Ausgerechnet drei frühere CDU-Politiker haben für die AfD drei Direktmandate geholt. Noch dazu in jener Ecke des Landes, wo Merkels Wahlkreis liegt – und fast genau ein Jahr nach ihrem „Wir schaffen das“ zum Thema Flüchtlinge. Merkels humanitäres Versprechen hat für einen Einbruch ihrer Popularität und für Kritik in den eigenen Reihen gesorgt und Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten gespült.
Manche deutsche Medien stimmen jetzt den Abgesang auf jene Regierungschefin an, die die Berliner Politik viele Jahre lang bestimmt hat. „Aus dem Kanzlerbonus ist ein Kanzlermalus geworden“, erklärte der Spiegel. Die Frage nach Merkels Spitzenkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2017 werde inzwischen offen gestellt. Und die Bild-Zeitung ätzte: „Wie viele Klatschen verträgt Merkel noch?“
Deutsche Politologen winken hingegen ab. „Das ist nicht der Beginn der Kanzlerdämmerung“, sagte Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin der TT. Symbolisch habe die Niederlage in Mecklenburg-Vorpommern zwar ihren Wert, „und sie wird auch entsprechend genutzt“. Dennoch gebe es in der CDU keine Personaldebatte, „weil es keine Alternative zu Frau Merkel gibt“.
Neugebauer geht davon aus, dass die Kanzlerin im Dezember am Parteitag in Essen ihre Kandidatur für eine vierte Amtszeit bekannt geben wird. Und dass dem Rest der Union – inklusive der widerspenstigen Schwesterpartei CSU – dann aus wahltaktischen Gründen nichts anderes übrig bleibt, als mitzuspielen.
Ganz ähnlich sieht es Gerd Mielke von der Gutenberg-Universität in Mainz. „Es wird sicherlich in den nächsten Wochen – und wohl bis zur Bundestagswahl – keinen großen Knall in der CDU geben“, sagte er der TT. Im Augenblick gebe es in der CDU niemanden mehr, der Merkel gefährlich werden könnte. Außerdem sei die Union „nicht sehr putschfreudig“.
Dazu kommt, dass die SPD unter dem glücklosen Parteichef Sigmar Gabriel in vielerlei Hinsicht noch schlechter dasteht als die CDU. Und solange die Christdemokraten auf Bundesebene noch deutlich vor den Sozialdemokraten liegen und die Aussicht besteht, nach 2017 weiterhin eine große Koalition anzuführen, gebe es keinen Handlungsdruck, meint Mielke.
Doch auch wenn Merkel sich im Sattel hält und vielleicht eine vierte Amtszeit antritt, so sind im vergangenen Jahr doch politische Verwerfungen sichtbar geworden, die die deutsche Parteienlandschaft und Politik nachhaltig verändern werden.
Merkels liberale Flüchtlingspolitik habe Ängste mobilisiert, sagt Mielke. Gemeint sind zum einen ökonomische Ängste; Flüchtlinge würden als Bedrohung am Wohnungs- und Arbeitsmarkt wahrgenommen und – gerade in Zeiten des Sparens – zu einem Symbol für die verschärfte Konkurrenz um Haushaltsmittel. Und zum anderen die Angst vor einem „kulturellen Identitätsverlust“ (siehe Text unten).
Zugleich bricht nun etwas auf, was sich seit Jahren – lange vor der Aufnahme von Flüchtlingen im großen Stil – angebahnt hat. Denn Merkel habe „in zehn Jahren Kanzlerschaft die CDU in umfassender Weise modernisiert“, sagt Mielke. Als Beispiele nennt er ein neues Frauen- und Familienbild, den Ausstieg aus der Atomkraft und die Abschaffung der Wehrpflicht.
Die Kanzlerin habe diese Modernisierung „gegen den stillen und trotzigen Widerstand von Teilen der Parteimitglieder“ durchgezogen. Viele traditionellere Konservative hätten heute in der CDU keine Heimat mehr. „Man kann programmatische Traditionen über Bord werfen, nicht aber die Wähler“, bilanziert Mielke. „Die kommen jetzt aus der Tiefe ihres Frusts und wählen die AfD.“
Die Politologen sehen hier eine Parallele zur SPD, die in den Achtzigerjahren an die Grünen verloren hat und in den 2000ern an die Linke. Auch der bislang letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder hat mit seiner „Agenda 2010“ einen Teil der Programmatik der Sozialdemokratie über Bord geworfen und damit interne Konflikte ausgelöst. Schröder wollte mit Neuwahlen die Genossen zur Disziplin zwingen und sich ein neues Mandat ertrotzen. Von der damaligen Niederlage und dem Machtverlust (übrigens an Merkels CDU) hat sich die SPD bis heute nicht erholt.
Schröders Schicksal dient Merkel als Warnung. Sie setzt auch diesmal darauf, in Ruhe Kurs zu halten. Allerdings werde sie nach Mecklenburg-Vorpommern „eine neue Kommunikationsstrategie finden“, glaubt Neugebauer.
Bisher habe die Kanzlerin nur gesagt, welches Ziel sie erreichen will; die Leute sollten ihr dann vertrauen, dass sie schon die richtigen Maßnahmen setzt. Für die Zukunft erwartet Neugebauer, dass Merkel ihre Politik detaillierter erklärt. Das deutete sie gestern bereits an, als sie ihrer Partei vom G20-Gipfel in China ausrichtete: „Alle müssen darüber nachdenken, wie können wir jetzt das Vertrauen wieder zurückgewinnen – und vorneweg natürlich ich.“