Weltsuizidpräventionstag

Mehr Suizide als Verkehrstote: Experten wollen Tabus brechen

Personen stehen an der Gedenkstätte für die Opfer des Germanwings-Fluges am Flughafen Düsseldorf. Der Pilot soll die Maschine zum Absturz gebracht haben. (Archivfoto)
© imago stock&people

Mehr als Tausend Menschen nahmen sich im Vorjahr aus Verzweiflung das Leben. Experten betonen, dass Betroffenen oft sehr effektiv geholfen werden könnte – wenn diese nicht aufgrund von Tabus keine Hilfe suchen würden.

Wien – 1.251 Personen haben sich laut Statistik Austria 2015 selbst getötet. Anlässlich des Weltsuizidpräventionstag am 10. September appellierte Christa Rados, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychosomatik (ÖGPP), das Thema zu enttabuisieren: „Psychische Erkrankungen sind keine Schande.“

Wie groß das Problem der Suizide in Österreich eigentlich ist, zeigt eine Gegenüberstellung mit der Entwicklung bei den Verkehrstoten. Zu Beginn der 1970er-Jahre war laut Gesundheitsministerium die Zahl an Verkehrsopfern mit 2.675 noch deutlich höher als jene der Suizide mit 1.789. Durch Bewusstseinsbildung und Verbesserung der Verkehrssicherheit wurden die Straßen immer sicherer, entsprechend entwickelte sich die Opferbilanz. Seit Mitte der 1980er-Jahre wurden bereits weniger Verkehrstote als Selbstmorde verzeichnet. Im Jahr 2015 war das Verhältnis deutlich umgekehrt: Es gab mit 1.251 Suiziden bereits rund dreimal so viele Suizide wie Verkehrstote (475 Personen).

Psychisches Leid noch immer mit Stigma versehen

„Das Thema Suizid und psychische Erkrankungen im Allgemeinen müssen dringend enttabuisiert werden“, sagte Rados gegenüber der APA. Im Gegensatz zu körperlichen Gebrechen, seien psychische Störungen oftmals noch mit einem Stigma versehen. Suiziden würden etwa oft schwere Depressionen vorausgehen, die in der Regel sehr gut psychiatrisch behandelt werden könnten. Neben einer Psychotherapie unterstrich Rados dabei auch die Wichtigkeit von Antidepressiva. „Leider sind Psychopharmaka nach wie vor mit Vorurteilen besetzt, dabei können Antidepressiva im Falle von Suizidalität Leben retten“, sagte die Medizinerin.

Hotlines bieten Hilfe an

Mehrere Einrichtungen bieten unbürokratische Soforthilfe an:

Telefonseelsorge unter der Nummer 142

Teenager-Hotline „Rat auf Draht“ unter der Nummer 147

Polizei unter der Nummer 133

Frauen-Helpline unter der Nummer 0800 / 222 555

Zentral ist die unaufgeregte Aufklärung der Bevölkerung. Medien sind aufgrund des sogenannten Werther-Effekts (Zunahme von Selbstmorden nach einer Berichterstattung, Anm.) bei Suiziden sehr zurückhaltend. Dies trug Rados zufolge aber möglicherweise dazu bei, dass das Thema völlig verdrängt wurde. Der Werther-Effekt tritt der Psychiaterin zufolge vor allem bei sensationsträchtigen und emotionalisierten Meldungen - etwa nach einem Freitod eines Prominenten - auf. Sachliche Berichte mit Lösungsvorschlägen seien hingegen extrem hilfreich für Menschen mit psychischen Problemen sowie deren Angehörige.

Rechtzeitige Behandlung Schlüssel zum Erfolg

Aufklärung ist auch ein zentraler Punkt, um Selbstmorde zu verhindern. „Suizidalität ist kein statischer Zustand, sondern entwickelt sich oft über längere Zeit“, sagte Rados. Die Betroffenen pendeln dabei zwischen Am-Leben-Bleiben-Wollen und einem extremem Todeswunsch. Wird der Prozess rechtzeitig erkannt, sind die Behandlungschancen sehr gut.

Enge Angehörige sollten bei seelischer Verstimmung einfühlsam das Gespräch mit dem Betroffenen suchen - und bei Unsicherheit lieber einmal zu viel als zu wenig professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Feuer am Dach ist spätestens, wenn der Betroffene Selbstmordabsichten äußert. Das Gerücht, demzufolge „angekündigte Selbstmorde nicht stattfinden“, ist kompletter Unsinn. „Ganz im Gegenteil, dann hat sich der Betroffene bereits längere Zeit damit beschäftigt“, warnte Rados. Hier sollte umgehend bei einer Kriseninterventionsstelle Hilfe gesucht werden. (TT.com/APA)