Streit um Klagemauer - Jüdische Frauen wollen wie Männer beten
Jerusalem (APA/dpa) - Die Klagemauer in Jerusalem ist für Juden die heiligste Stätte weltweit. Doch seit Jahrzehnten kämpft hier eine Frauen...
Jerusalem (APA/dpa) - Die Klagemauer in Jerusalem ist für Juden die heiligste Stätte weltweit. Doch seit Jahrzehnten kämpft hier eine Frauengruppe um Gleichberechtigung im Gebet. Die Strengreligiösen hassen sie dafür - und werden aggressiv.
Die Frauen tragen Stöckelschuhe, Sandalen, Röcke, Hosen, manche haben eine Kippa auf dem Kopf, andere einen beigen Gebetsschal um die Schultern. Sie halten Gebetsbücher in den Händen und singen und beten. Vor ihnen steht die Klagemauer in Jerusalem mit ihren mächtigen sandfarbenen Steinen, das größte Heiligtum der Juden, einziges Überbleibsel des zweiten Tempels, erbaut mehr als 500 Jahre vor Christus. Hinter ihnen schreien die Ultra-Orthodoxen, strengreligiöse Juden. Wütend, entsetzt, aggressiv.
An diesem Freitagmorgen, kurz nach sieben Uhr, ist der Konflikt um die Klagemauer nicht zu überhören. Nicht der Streit zwischen Palästinensern und Israelis. Denn über der Klagemauer thront der Tempelberg mit der Al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom - einem der größten Heiligtümer für Muslime. Sondern der Streit zwischen den Ultra-Orthodoxen und den „Frauen der Mauer“ (Neshot Hakotel).
Die Frauengruppe kämpft seit bald 30 Jahren um Gleichberechtigung an der Klagemauer. Die Frauen wollen hier wie die Männer beten können: hörbar, mit Gesang, mit einer Tora-Rolle, mit dem Gebetsschal Tallit um die Schultern und den Gebetsriemen Tefillin um die Hände und Arme gewickelt. Für die Ultra-Orthodoxen ist das eine Art Kriegserklärung.
„Religiöser Pluralismus ist ein Wert für sich“, sagt Rachel Cohen Yeshurun, Vorstandsmitglied bei den „Frauen der Mauer“. „Wir sind die Fußsoldaten für religiösen Pluralismus.“ Es gehe darum, dass nicht die Ultra-Orthodoxen die Regeln für alle festlegten. Die „Frauen der Mauer“ haben nach eigenen Angaben auch orthodoxe Mitglieder.
Etwa einmal im Monat halten sie einen Gottesdienst auf ihre Art an der Klagemauer ab - und lösen damit regelmäßig Proteste aus. Für die Ultra-Orthodoxen ist das Verhalten der Frauen ein Akt der Missachtung der traditionellen Werte. Ende Jänner entschied die Regierung, den Konflikt mit einem dritten Gebetsbereich neben den Bereichen für Männer und für Frauen zu lösen. Doch davon ist bisher nichts zu sehen.
Lange Zeit durften an der Klagemauer allein Männer laut beten und singen. Die Frauen standen still und in sich gekehrt. Im April 2013 entschied jedoch ein Gericht in Jerusalem, dass Frauen an der Mauer ebenfalls frei beten können sollten. Zuvor hatte die Polizei fünf „Frauen der Mauer“ wegen Störung des öffentlichen Friedens an der Klagemauer festgenommen.
Doch die Ultra-Orthodoxen interessiert die Entscheidung des Gerichtes nicht. „Sie versuchen, die Tora zu verändern, und niemand kann die Tora verändern“, sagt Elja Haim über die Frauen. Die Tora sind die fünf Bücher Mose. Mit einer Kippa auf dem Kopf und einem Gebetsschal um die Schultern steht Haim zwischen vermutlich mehr als 50 jungen Männern und Burschen mit Schläfenlocken und schwarzen Hüten. „Was sie tun, ist sehr schlimm“, sagt der 45-Jährige. Nach der Tora sei Frauen nicht erlaubt, den Gebetsschal und die Gebetsriemen zu tragen.
Die Männer stehen an der Absperrung zum Frauenbereich. Die Gruppe schreit jedes Mal auf, wenn das Gebet und der Gesang der Frauen zu hören ist. Doch auch im Frauenbereich ertönt Kritik - in Form von schrillen Trillerpfeifen.
„Die Klagemauer ist heilig. Ihr seid Clowns“, keift eine ältere Dame. Sie steht zwischen der Frauengruppe und der Klagemauer. Mit einer Mitstreiterin hält sie ein Transparent mit einem Gebet hoch, beide blasen in Trillerpfeifen. „Wir leben nach der Tora, und wir sterben nach der Tora“, ruft eine der beiden.
Rachel Cohen Yeshurun - rote Haare, Brille, blau-grünes Kopftuch - lächelt bei solchen Aussagen. „Das ist ihre soziale Norm. Sie denken, es steht in der Tora. Aber die Tora verbietet Frauen nicht, laut zu beten“, sagt sie. „Im säkularen und im normalen Leben haben Frauen alle Rechte dieser Erde. Aber wenn es um Gebete geht, wird Frauen plötzlich der Mund verboten.“ Geschlechterregeln hätten sich verändert, und das Judentum sei auch nicht mehr das gleiche wie vor 3.000 Jahren. Heute würden in den Tempeln auch keine Tiere mehr geopfert.
Rabbi Shmuel Rabinovich, der Rabbi der Klagemauer, äußert sich auf Anfrage nicht zu dem Streit. Im Juli 2015 schrieb er in einem offenen Brief in der „Jerusalem Post“ an die „Frauen der Mauer“: „Ihr fordert eine Veränderung der kompletten historischen Gebetspraktiken der jüdischen Nation.“ Alle Strömungen des Judentums würden vor der Klagemauer akzeptiert. „Wir müssen die Klagemauer nicht zu einem Symbol des Kampfes werden lassen, sondern zu einem Symbol des Friedens.“
Doch nicht alle Männer an der Absperrung zum Frauenbereich sind gegen die „Frauen der Mauer“. Rund ein Dutzend ältere Herren mit Kippas auf den Köpfen folgen singend ihrem Gebet. „Sie sind Helden“, sagt Yizhar Hess, Chef der konservativen jüdischen Bewegung Masorti in Israel, über die Frauen. Sie kämpften nicht nur für die Freiheit der Religion, sondern auch für die Demokratie in Israel. „Israel ist der Staat der Juden in der ganzen Welt“, sagt Hess. „Israel als eine Demokratie muss schlicht alle Formen des Judentums respektieren.“ Auch die Bewegung der reformorientierten Juden unterstützt die Frauen.
Plötzlich gibt es bei der Gruppe der Ultra-Orthodoxen eine Rangelei, Männer schieben, schubsen, zerren. Eine Kippa fällt zu Boden, ein junger Mann mit schwarzem Hut hält seine Tora hoch, als wolle er sich abschirmen. Sicherheitskräfte in neonfarbenen Westen stehen zwischen den Kritikern und den Unterstützern der Frauen. Die Situation beruhigt sich wieder.
Früher wurden die „Frauen der Mauer“ mit Eiern beworfen und mit Wasser bespritzt, erzählt Cohen Yeshurun. Sie seien mit Polizeischutz zum Beten gekommen. Vor dem Gerichtsurteil 2013 waren die Frauen dafür immer wieder von Polizisten festgenommen worden.
Um den Konflikt zu lösen, soll nun südlich der aktuellen Gebetsbereiche eine dritte Fläche entstehen - für Männer und Frauen. Dort könnten die „Frauen der Mauer“ auch laut beten, ohne die ultra-orthodoxen Männer zu stören. Die Zeitung „Haaretz“ berichtet von Kosten in Höhe von umgerechnet rund acht Millionen Euro.
Doch seit der Entscheidung der Regierung Ende Jänner scheint sich nichts zu tun. Warum, dazu äußert sich das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nicht. Man bemühe sich weiter darum, eine Lösung zu finden, schreibt ein Sprecher in dürren Worten.
Angeblich blockiert die ultra-orthodoxe Bewegung die Pläne. Allerdings gab es auch scharfe Kritik aus Jordanien, das bis heute den Tempelberg verwaltet. Eine Archäologin der Hebräischen Universität in Jerusalem verurteilte zudem, dass nach den Plänen für den neuen Gebetsbereich Zeugnisse der Tempelzerstörung durch die Römer teilweise nicht mehr zugänglich wären.
Das Gericht hat den streitbaren Frauen in vielem Recht gegeben. Nur Tora-Rollen dürften sie immer noch nicht zur Klagemauer mitbringen, schimpft Cohen Yeshurun. Im Gebetsbereich der Männer liegen viele auf Tischen aus - bei den Frauen keine.
Wie lösen das die „Frauen der Mauer“? Sie schmuggeln Tora-Rollen an der Sicherheitskontrolle vorbei. „Manchmal sind wir erfolgreich, manchmal scheitern wir“, sagt Cohen Yeshurun. Sie sei im Juli 2015 erwischt und von der Polizei mitgenommen worden, erzählt die 46-Jährige. „Ich war völlig traumatisiert. Das ist eine Taktik. Das ist Schikane.“ Als hätte die Polizei nichts Besseres zu tun in Jerusalem.
Auch an diesem Morgen haben die Frauen heimlich eine Tora-Rolle mitgebracht. Während des Gottesdienstes schirmen sie die heilige Schrift mit ihren Körpern ab. Um 8.30 Uhr ist das Gebet vorbei. Es wird schon heiß. Als sie gehen, folgen ihnen die Ultra-Orthodoxen und rufen: „Tora“, „Tora“. Die Männer wissen genau, in einer der Taschen muss sie sein. Sie greifen nach einem Koffer. Eine Frau geht dazwischen. Wieder gibt es ein Handgemenge.
Die Kritiker der Frauen argumentieren mit der heiligen Schrift und ihrem Respekt davor. Das Gezerre um einen Koffer, der möglicherweise eine Tora-Rolle enthält, wirkt dagegen wie ein Kinderstreit um Spielzeug. Rachel Cohen Yeshurun sagt: „Weil sie uns so sehr hassen, vergessen sie ihren Respekt vor der Tora.“