Eindringlicher Saisonstart: „Narrenschiff“ im Volkstheater

Wien (APA) - Wer darf am Tisch des Kapitäns Platz nehmen? Ab wann ist man Jude? Und: Was tun gegen den Gestank aus dem Zwischendeck? Fragen ...

Wien (APA) - Wer darf am Tisch des Kapitäns Platz nehmen? Ab wann ist man Jude? Und: Was tun gegen den Gestank aus dem Zwischendeck? Fragen wie diese verhandeln die Reisenden auf Katherine Anne Porters „Narrenschiff“, das am Freitagabend auf der Bühne des Volkstheaters von Mexiko gen Europa aufbrach, um allerlei Heimatlose an ihre (inneren) Grenzen zu bringen. Sicher ans Ziel gebracht von Dusan David Parizek.

Es herrscht alles andere als Euphorie auf diesem Schiff, das auf der Volkstheaterbühne aus einer zentralen Rampe aus hellem Schiffboden-Parkett besteht, flankiert von den offenen Kabinen der Reisenden. Wirklich freiwillig scheint niemand die Reise anzutreten: Weder die deutschen Passagiere, die aufgrund von wirtschaftlichen und politischen Gründen die Heimreise antreten, noch die Amerikaner, die eine Reise ins Ungewisse vor sich haben. Und schon gar nicht eine spanische Gräfin, die nach Teneriffa deportiert werden soll. Während die illustre Gesellschaft in der ersten Klasse die Hackordnung auslotet, vegetieren im Zwischendeck 876 spanische Gastarbeiter, die nach dem Kollaps des Zuckerrohrmarktes nicht mehr benötigt und des Landes verwiesen werden.

Dusan David Parizek hat den 1962 erschienenen Roman für die Bühne adaptiert und macht den bereits 1965 von Stanley Kramer verfilmten Stoff rund um diese schicksalhafte Reise im Jahr 1931 so greifbar, dass einem im Zuschauerraum Angst und Bange werden kann. Diese Ausgrenzung der Anderen, das Beharren auf Überlegenheit einer einzelnen Kultur – irgendwie kommt einem das schrecklich bekannt vor dieser Tage. Die zahlreichen Charaktere des Romans hat er auf 14 auftretende Figuren reduziert, die von elf Schauspielern verkörpert werden. Jede einzelne Geschichte wird hier fassbar gemacht, das Innerste der Charaktere nach Außen gestülpt, als würden sie ihre ganze Zerrissenheit auf die Bühne kotzen.

Allen voran spielt sich der deutsche Herausgeber einer Modezeitschrift, Siegfried Rieber, in den Vordergrund. Rainer Galke verleiht dem Deutschen die Bedrohlichkeit des scheinbar Überlegenen. Flankiert wird er von seiner Assistentin Lizzi (Seyneb Saleh), die den Antisemitismus schon derart verinnerlicht hat, dass sie für jegliche Kritik von außen immun ist. So treibt sie etwa Europa-Rückkehrerin Mary Treadwell (Anja Herden) in die Enge, als sie ihr die abgewandelte Gretchenfrage stellt: „Wie hältst du es mit den Juden?“ Die Dame aus gutem Hause wagt es nicht, die Frage klar zu beantworten. Und wer ein Jude ist, was ein Jude ist, bestimmt die Unterhaltungen an Deck dieses Narrenschiffes. Bei dem Händler Julius Löwenthal (Lukas Holzhausen) ist es vollkommen klar. Er verkauft in Mexiko katholische Devotionalien und befindet sich auf seiner regelmäßigen Überfahrt nach Europa. Er sitzt beim Abendessen abseits an einem leeren Tisch. Aber wie steht es mit Wilhelm Freytag (Gabor Biedermann), der eigentlich nur mit einer Jüdin verheiratet ist?

Bald wird klar: Auch das macht ihn zum Juden. Doch der „echte“ Jude Löwenthal will Freytag nicht an seinem Tisch haben, da er Mischehen strikt ablehnt. Genauso wie die Deutschen Freytag vorwerfen, das arische Blut zu verunreinigen, bringt es den Juden auf, wenn deutsche Männer die alten jüdischen Familien mit ihrem Blut besudeln. Da tun sich Gräben auf, die es einem kalt über den Rücken laufen lassen. Stets wird jemand gefunden, dem noch mehr Unterlegenheit attestiert wird. Und der Anschluss an jene, die Überlegenheit demonstrieren, wird zur Überlebensstrategie. Etwa für die Witwe Frau Otto Schmitt, die Bettina Ernst von der unterdrückten, hörigen Ehefrau in eine überzeugte Nationalsozialistin verwandelt.

Dazwischen findet sich nur das heillos zerstrittene amerikanische Künstlerpaar David (Sebastian Klein) und Jenny (Katharina Klar), das sich scheinheilig Sorgen um die Ausgegrenzten macht, um sie schließlich zum Thema ihrer Kunst zu machen. Dieser schrecklichen Dynamik entziehen sich lediglich der rechtschaffene deutsche Schiffsarzt (Michael Abendroth) und die drogensüchtige Revolutionärin La Condesa (Stefanie Reinsperger), die sich weder rechtfertigen müssen noch wollen. Während Abendroth eine professionelle Distanz zu den Schiffsgästen wahrt, ist Reinsperger ganz mit ihrem eigenen Wahnsinn beschäftigt. Ihre Deportation macht ihr genauso zu schaffen wie ihre Äther-Sucht. Das führt zu innigen, verzweifelten Szenen mit Abendroth, der als Arzt versucht, ihr ein Leben ohne Beruhigungsmittel zu ermöglichen, dann aber doch immer wieder schwach wird, gegen die Annäherungen der Condesa jedoch standhaft bleibt.

Und die 876 Deportierten im Zwischendeck? Die sitzen im Zuschauerraum, der in manchen Szenen hell erleuchtet wird. In einer Pseudo-Messe versucht Siegfried, das Pack zum Katholizismus zu bekehren. Während er diesen Menschen bei aller Antipathie eine Chance gibt, steht die spanische Großfamilie, die sich in Mexiko als „Zarzuela“-Tanztruppe verdingt hat, in keinem guten Licht. Einige Familienmitglieder werden hier auf die Bühne gebracht, etwa das derbe Zwillingspaar Ric und Rac (Klar und Saleh), das in breitestem Wienerisch (also Spanisch) die Gäste zu einer Fiesta einlädt, die den großen Showdown heraufbeschwört.

Dazwischen finden sich zahlreiche intime Szenen, in denen sich die Charaktere einander offenbaren, nur um später den Preis dafür zu zahlen. Die Zusammenkünfte finden dabei nicht nur an Deck statt, sondern auch in den Zweier-Kabinen, die die Reisenden zu unfreiwilligen Verbündeten machen. Die Idee, die ausrangierten Garderoben-Tische des Akademietheaters als Kajüten in Szene zu setzen, ist in dem sehr reduzierten Bühnenbild Parizeks ein stimmiger Puzzlestein. Statt Beamer-Projektionen gibt es einen Overhead-Projektor, der wahlweise Sternenbilder, den Vollmond oder Kirchenlieder an die weiße Rückwand projiziert. Anstatt von Musikeinspielungen stampfen, klatschen und schnipsen die Darsteller, sodass dieses „Narrenschiff“ von einem zutiefst menschlichen Soundtrack begleitet wird. Ein rundum gelungener Abend mit hervorragendem Ensemble, das auch nach fast dreieinhalb Stunden noch langen, euphorischen Applaus erhielt.

(S E R V I C E - „Das Narrenschiff“ von Katherine Anne Porter, Uraufführung im Volkstheater. Bühnenfassung und Regie: Dusan David Parizek. Mit u.a. Stefanie Reinsperger, Michael Abendroth, Rainer Galke, Anja Herden und Seyneb Saleh. Weitere Termine: 10., 13., 17., 18., 21., 22. September, 5., 11., 14. und 31. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr. Infos und Karten unter (01) 52 111-400 oder www.volkstheater.at)