11. September 2001

9/11: Ursachen und Folgen eines welthistorischen Tages

„Größter terroristischer Propagandaerfolg“: Trümmer des World Trade Centers inmitten von Staubwolken.
© AFP

Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon veränderten Amerika und die Welt. US-Präsident George W. Bush instrumentalisierte die Stimmung für eine Militäraktion im Irak. Diese schlug fehl. Ihre Konsequenzen sind bis heute spürbar.

Von Michael Gehler

„9/11“ sitzt tief im kollektiven Gedächtnis der USA. An jenem Tag flog um 8 Uhr 45 eine Boeing 767 der American Airlines in den Nordturm des World Trade Center (WTC) in New York. Um 9 Uhr 03 raste eine Boeing der United Airlines in den Südturm. Um 9 Uhr 38 flog eine Maschine der American Airlines in die Nordwestseite des Pentagon.

Michael Gehler (Österreichische Akademie der Wissenschaften) ist seit 2006 Jean-Monnet-Professor für vergleichende europäische Zeitgeschichte an der Universität Hildesheim.
© gehler@uni-hildesheim.de

Um 10 Uhr stürzte ein Flieger der United Airlines in der Nähe von Shanksville in Pennsylvania, nördlich vom Sommersitz des Präsidenten ab. Nachdem die Passagiere versucht hatten, das Cockpit zu stürmen, ließen die Terroristen das Flugzeug abstürzen. Die Twin-Towers waren eingebrochen. Tausende fanden den Tod. Richard Holbrooke sprach von „der gerissensten und mörderischsten Attacke auf einen Staat“. Präsident George W. Bush rief den Verteidigungsfall für die NATO aus. „Uneingeschränkte Solidarität“ war vorerst die Antwort der Verbündeten.

Die Anschläge trafen eine kaum leidgeprüfte Nation tief ins Mark. 19 junge Muslime hatten einen ausgeklügelten Plan ausgeführt und zum größten terroristischen Propagandaerfolg mit ungekannter multimedialer Breitenwirkung beigetragen. Drahtzieher war Osama Bin Laden, ein saudischer Multimillionär, der nach seiner Unterstützung durch die USA im Kampf gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan schon lange dem „ungläubigen Westen“ den Krieg erklärt hatte.

Gegen die Gottlosen

Zwölf der Attentäter stammten aus Saudi-Arabien, den Emiraten, dem Libanon und Ägypten. Sie hatten sich zuvor mit Ortswechsel in den USA aufgehalten. Einige nahmen Flugunterricht, wollten aber nur Landungen trainieren. Sie waren gebildet, gut erzogen, hatten sich in säkularen Milieus bewegt und tranken sogar Alkohol. Sie besaßen aber ein ausgeprägtes politisches und religiöses Weltbild. Sie wollten die USA in ihren Nervenzentren treffen, ihre Verletzlichkeit demonstrieren, Muslime aus ihrer vermeintlichen Demütigung und Unterlegenheit herausführen, sie im Kampf gegen die „gottlose“ westliche Welt mobilisieren, Rache gegen die „ungläubigen Unterdrücker“ üben, die Zersetzung der multikulturellen Gesellschaften durch Antiterror-Kampagnen erreichen und sich zu Helden für „die gerechte Sache“ stilisieren.

Als Ursachen ihres Extremismus wurden auch die Behandlung der Palästinenser durch Israel (Mauerbau und Landnahme), ökonomische Misswirtschaft, politische Unfreiheit und die staatlich aufrechterhaltene Unterentwicklung ihrer Länder genannt. Der Historiker Efraim Karsh vom King’s College London meinte, dass sich die Anschläge weniger gegen die USA und ihre Nahostpolitik wandten, sondern sie nur Zielscheibe inner­islamischer Auseinandersetzungen seien, eines militant-kriegerischen Islam, der sich gegen die Modernisierung und Verwestlichung eines offenen und liberalen Islam zur Wehr setze.

Die Folgen von 9/11 waren vielfältig: Traumatisierung der Opferangehörigen, eine Welle des Patriotismus mit Stars-and-Stripes-Beflaggung und dem American Eagle als Einheitssymbol, Heldenstatus für die Feuerwehrmänner von New York City, „Pledge of Allegiance“-Treueschwüre in den Schulen. Für Bush begann die Zeit größter Beliebtheit mit der Ausrufung des „Kampfs gegen den Terror“.

Bushs Unilateralismus

Als Ruferin in der Wüste empfand sich dagegen die US-Schriftstellerin Susan Sontag, die die „falsche Einstimmigkeit der Kommentare“ kritisierte: Niemals sei Amerika weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als an dem Tag, „an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte“. Alarmierend seien die „dreisten Täuschungen“ von Politikern und Medien. Den Angriff wollte sie nicht als einen auf die Zivilisation werten, sondern als Konsequenz, die sich aus der Interessenpolitik der USA ergab.

In der Tat erzeugten Bushs Reden eine Kriegsstimmung, indem er die Anschläge instrumentalisierte. Mit 9/11 war er in der Lage, seine Ziele rücksichtslos durchzusetzen. Globale Vorhaben wie Kyoto-Protokoll, Atomteststopp-Abkommen, Überwachung von ABC-Waffen und Internationaler Strafgerichtshof wurden die Unterstützung versagt und auf Unilateralismus gesetzt. Es folgte die Afghanistan-Intervention von Oktober 2001 bis Juli 2002. Von den Verbündeten noch mitgetragen, gingen diese alsbald auf Distanz: China, Frankreich und Russland sowie Deutschland und Kanada verhinderten eine UNO-Resolution, die eine schon kurz nach dem 11. September von Bush geplante Militärintervention im Irak ermöglichen sollte.

US-Außenminister Colin Powell drang mit einer manipulativen Präsentation vor der UNO nicht durch, die Herstellungsanlagen für Massenvernichtungswaffen im Irak nachweisen wollte. In relativ kurzer Zeit sollte die „Anti-Terror-Allianz“ zerfallen und die „Koalition der Willigen“ gegen den Irak nur bescheiden ausfallen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan nannte die angloamerikanische Intervention am Golf „illegal“.

Transatlantischer Streit

Warnungen aus Europa wurden ignoriert: Der unter Vorspiegelung falscher Tatsachen durchgeführte Einmarsch ohne Exitstrategie wurde zum Fehlschlag: Weder hatte Saddam Hussein Verbindungen zu Bin Laden, noch verfügte er über Atomwaffen. Mochten US-Ölkonzerne mit der Okkupation des Zweistromlandes und der Bush-Clan private Inter­essen gewahrt haben, standen die GIs alsbald vor einer „mission impossible“. Mit der Irak-Invasion traten die USA eine Lawine von Gewalt los und öffneten das Tor zu Hölle. Die Supermacht hatte sich durch die 9/11-Attentäter provozieren sowie zu undemokratischen und menschenrechtswidrigen Aktionen (Patriot Act, Internierungslager Guantánamo, Folterstätte Abu Ghraib) hinreißen lassen, was internationalen Prestige- und Glaubwürdigkeitsverlust brachte.

Infolge innenpolitischen Drucks und sprießender Verschwörungstheorien war Bush gezwungen, eine 9/11-Untersuchungskommission einzusetzen, deren Bericht unvollständig und umstritten blieb. Der Irak-Krieg wurde zu einem Garantiefaktor des Nährbodens für den längst globalisierten Terrorismus. Al-Qaida verlor zwar seine Strukturen, wurde aber zur Bewegung. Der globale Terrorismus hatte sich seit 9/11 nicht vermindert, sondern vermehrt und mit dem IS noch weiter radikalisiert. Der Terrorismus mit islamistischem Hintergrund erreichte mit Madrid 2004, London 2005 sowie zuletzt Paris 2015 und Brüssel 2016 auch Europa.

Der Streit um die Frage, wie auf Terrorismus zu reagieren sei, wurde zum Katalysator für transatlantische Divergenzen. Sicherheit und Stabilität in gefährdete Regionen zu tragen, um sich nicht mehr Unsicherheit und Instabilität einzuhandeln, war die Strategie bei den historischen Erweiterungen von EG und EU im Süden und Osten Europas.

Imperialistische Doktrin

Das setzte den Willen voraus, materielle, wirtschaftliche und soziale Ungleichheitsverhältnisse abzubauen, Wohlstandsgefälle auszugleichen und damit Ursachen von Diktaturen und Extremismus zu beseitigen. Washington setzte auf die Steigerung seines Militärhaushalts. Unbeachtet blieb der Glaube an Wandel durch internationale Institutionen, Rechtsgrundsätze und Zusammenarbeit. Paul W. Schroeder, US-Historiker von der University of Illinois, nannte die Bush-Doktrin „imperialistisch“. Sie beanspruche einseitig das Recht, für zahlreiche andere Länder der Welt über vitalste Fragen ihrer nationalen Interessen, der Sicherheit und der Stellung im internationalen System zu bestimmen. Schroeder prophezeite im Jahre 2002 der Politik der USA: „Sie lädt andere Staaten zur Nachahmung ein – und sie wird solche Nachahmer finden.“ Die Vorhersage sollte eintreffen.