Forschungsreise durch das horizontale Wien
Weniger frivol, als der Titel verspricht: Mit „Sex in Wien“ stellt sich der neue Direktor des Wien Museum als Kurator vor.
Von Bernadette Lietzow
Wien –Steht zu Beginn der Ausstellung „Sex in Wien. Lust. Kontrolle. Ungehorsam.“, der als erster Einstieg der begehrlichen Schaulust gewidmet ist, ein Blick durch ein Schlüsselloch auf eine unbekleidete Dame der 1930er-Jahre, ist dieser eher ironisch zu deuten. So skandalträchtig der Titel, so gelassen und offen fällt die Annäherung an das Thema Sex in der Hauptstadt aus, unter dem Verzicht auf jegliche unlautere Schlüssellochperspektive. Der lange Jahre in den USA lehrende Kulturanthropologe Matti Bunzl, seit Oktober 2015 Nachfolger von Wolfgang Kos als Direktor des Wien Museum am Karlsplatz, verwirklichte gemeinsam mit einem Team von sechs Kuratoren die Idee, sich am Beispiel Wiens mittels Geschichte und Geschichten der Präsenz und Funktion von Sexualität in der Großstadt zu widmen. Das gelingt den Kuratoren, unter anderem Martina Nußbaumer vom Wien Museum und dem aus Tirol stammenden Forscher vom Kooperationspartner QWIEN-Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte, Hannes Sulzenbacher, trotz beschränkten Raumangebots erstaunlich gut – der Erweiterungsumbau des Wien Museums ist übrigens beschlossene Sache und soll 2019 beginnen.
Klug und witzig in drei Abschnitte – vor, bei und nach dem Sex – gegliedert, beleuchtet eine immense Fülle von über 500 Objekten sämtliche Facetten öffentlicher wie privater, geheimer wie verbotener Lust. Eine äußerst geschmacklose Eichenwiege mit Reichsadler legt beredtes Zeugnis ab über die nationalsozialistische Kanalisierung von Sexualität im Dienst des Aufbaus eines „gesunden Volkskörpers“. Ein Schafsdarm-Kondom aus der Zeit um 1800 demonstriert frühe Verhütungsversuche, der rosa „Personal Vibrator“ aus den Sixties und Nina Hagen im legendären „Club 2“-Auftritt künden von den (weiblichen!) Freuden, selbst Hand anzulegen, während ein „Stadtplan für Männer“ noch 1996 schulterklopfend die Wege zur Lust erklärt.
Interessant und mit Filmen, Postkarten und Erotika belegt, ist die zentrale Rolle Wiens in der beginnenden Pornoindustrie um 1900. Als Wirkstätte des Psychiaters Richard von Krafft-Ebing, der in seiner 1886 erschienenen Psychopathia sexualis eine erste Darstellung der Varianten menschlicher Sexualität unternahm, oder des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freuds war Wien, so Bunzl, „Ort der sexuellen Avantgarde“. In der Person der hochverehrten Tänzerin der Biedermeierzeit, Fanny Elßler, als Mädchen Opfer sexuellen Missbrauchs, kommt das Thema Pädophilie zur Sprache, selbstbestimmt und nicht nur dem Kaiser vorbehalten konnte die Schauspielerin Katharina Schratt ihr Liebesleben gestalten.
Aufgezeigt wird auch eine Geschichte der Orte des Begehrens: Spielte sich in den Wiener 1980er-Jahren schwul-lesbisches Leben noch im Untergrund, in nur Insidern bekannten Lokalen ab, so bewirkte unter anderem die Queer Theory seit den 1990er-Jahren endlich öffentliche Akzeptanz.
Eine äußerst kluge Ausstellungsarchitektur schafft intime Räume, lässt aber auch Blicke zu auf das Nebenan. Immer wieder flechten die Kuratoren Werke zeitgenössischer Künstler, wie Klaus Pichlers Fotoserie über „Sexorte“ in Wien oder Gabriele Szekatschs mehrdeutige Acryl-Artefakte zwischen die historischen Objekte, was die wegen des Jugendschutzgesetzes erst ab 18 Jahren erlaubte, sehr sehenswerte Ausstellung um den zeitgenössischen künstlerischen Diskurs um Geschlecht, Rolle und Orientierung bereichert. Bis 22. 1. 2017. www.wienmuseum.at