Arbeit und Bildung in Schieflage
Bessere Angebote in der Erwachsenenbildung, in der Elementarpädagogik und das Wiedereinführen des Fachkräftestipendiums mit 1.1.2017 sollen die Schere zwischen Arbeitsmarkt und Bildungsangebot verkleinern.
Von Margit Bacher
Innsbruck – „Der Bildungssektor reagiert nicht gezielt auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes“ – das ist die Begründung für die Industriellenvereinigung (IV) Tirol, warum die Schere Arbeitsmarkt – Bildungsangebot immer weiter auseinandergeht. Die IV-Tirol sieht bereits in der Elementarpädagogik großen bildungspolitischen Handlungsbedarf. Der Industrie gehe es unter anderem um die frühe Förderung mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Grundverständnisse. „Es kann nicht sein, dass wir heute Jugendliche heranbilden, die mit dem Internet aufwachsen, aber wenn sie in den Beruf einsteigen, die Grundwerkzeuge der EDV nicht beherrschen und verstehen“, heißt es von Seiten der IV.
Für die Kluft zwischen Arbeitsmarkt und Bildungsangebot nennt das Arbeitsmarktsevice (AMS) andere Gründe: „Das Ausbildungsniveau von Arbeitskräften und die Anforderungen des Arbeitsmarktes passen nicht mehr so zusammen, wie wir es in den vergangenen Zeiten gewohnt waren.“ Das auf ein schlechtes Bildungsangebot zurückzuführen, würde aber wohl zu einfach sein, „denn das Bildungsangebot war noch nie so breit gefächert wie heute.“
Was dem AMS aber auffällt: Der Zugang zu Ausbildung und speziell das Angebot der Erwachsenenbildung sei noch zu sehr auf bildungsaffine Personen abgestellt. Ältere Personen und Personen mit nicht deutscher Muttersprache würden es daher besonders schwer haben, das prinzipiell gut ausgebaute Angebot auch nutzen zu können.
Und auch die Wirtschaftskammer (WK) Tirol wünscht sich „dynamische Bildungseinrichtungen, die schnell auf diese neuen Anforderungen am Markt reagieren und uns fit für die Zukunft machen können“. Warum Arbeitsmarkt und Bildungsangebot auseinanderdriften? Weil das Verständnis von Bildung fehle und die Aufwertung von Berufsabschlüssen – heißt es dazu. Aus Sicht der WK sei es auch falsch, höhere Bildung mit akademischer tertiärer Bildung gleichzusetzen. Knappheit und Rekrutierungsschwierigkeiten gebe es insbesondere bei Absolventen der dualen Bildung, sprich der Lehre. Dieser Fachkräftemangel könne aus Sicht der WK nur überwunden werden, „wenn wir Abschlüsse europaweit vergleichbar machen und entsprechend wertschätzen. Was bringen viele Jahre Schule und Hochschule, wenn am Ende die notwendigen Kompetenzen für einen erfolgreichen Berufsweg und ein glückliches Leben fehlen?“, meint WK-Vizepräsident Martin Felder.
„Gefühlsmäßig wird die Schere zwischen Arbeitsmarkt und Bildungsangebot immer größer“, sagt Ernst Haunholter von der Arbeiterkammer (AK) Tirol. Was sich konkret in der Beratung zeigt, macht der Leiter der Bildungspolitischen Abteilung an drei Beispielen sichtbar: „Technische Spezialschulungen werden mittlerweile oftmals nur noch betriebsintern angeboten“, berichtet der AK-Experte. Wer sich am freien Markt spezialisieren und weiterbilden möchte, findet dazu kaum bis gar keine Angebote mehr. Haunholter nimmt an, dass Firmen deshalb intern weiterbilden, weil sie sich dadurch Wettbewerbsvorteile erhoffen, oder weil das externe Angebot zeitlich und geografisch nicht maßgeschneidert ist und sich die Kurse, aufgrund geringerer Teilnehmerzahl, für die Bildungsanbieter nicht rechnen.
Ein weiterer Bereich, wo sich die Schere zwischen Arbeitsmarkt und Bildungsangebot derzeit vergrößert, sei der Bereich der Kinderbetreuung. Mit der Novellierung des Tiroler Kinderbildungs- und Kinderbetreuungsgesetzes stieg der Bedarf an Ausbildungen in diesem Bereich sprunghaft an. Aktuell gebe es hierfür viel zu wenige und trotz Förderung zu teure Ausbildungsangebote, meint die AK. Viele Frauen, gerade auch Wiedereinsteigerinnen, halten Jobs in der Kinderbetreuung für gut vereinbar mit der eigenen Familie und nehmen Ausbildungskosten von bis zu über 4000 Euro in Kauf. „Ob sich so eine Investition jemals lohnen wird und amortisiert“, müsse sich dann jeder selbst ausrechnen.
Die dritte Gruppe, die aus AK-Sicht von der Kluft zwischen Arbeitsmarkt und Ausbildungsangebot immer stärker betroffen ist, sind Menschen, die aus körperlichen Gründen in ihrem ursprünglichen Job nicht mehr arbeiten können und Umschulungen bräuchten. „Es nützt nichts, wenn ein Maurer, der in einem Baumarkt als Verkäufer arbeiten könnte, einen Computerführerschein machen muss“, sagt Haunholter. Was dem AK-Experten hier fehle, sei die Individualförderung von Menschen – darauf müsse wieder viel mehr Augenmerk gelegt werden. So ein Mensch bräuchte in der Umschulung z. B. Unterstützung in Sachen Verkauf, Gesprächsführung und vielleicht auch noch im Erstellen von Excel-Tabellen. Und was dabei viel stärker gefördert werden müsste: „Nicht nur die Ausbildungskosten, sondern auch die Lebenserhaltungskosten müssten für die Zeit der Ausbildung abgedeckt werden. Viele Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Unfällen nicht mehr in ihrem ursprünglichen Job arbeiten können, würden – auch noch im Alter – mehrjährige Ausbildungen in Kauf nehmen, um dann, in einem neuen Job, wieder arbeiten zu können. „Aber wer kann sich das schon leisten, zwei bis drei Jahre auf Einkommen zu verzichten?“
Dem Arbeitsmarktservice (AMS) Tirol sind diese Probleme bekannt. „Die oberste Priorität für etwas ältere Personen ist das Nachholen von formalen Bildungsabschlüssen, sei es auf dem zweiten Bildungsweg oder im Rahmen von Fachausbildungen.“ Beides werde durch verschiedenste Angebote unterstützt und forciert.
Österreichweit setze das AMS außerdem auf Aus- und Weiterbildungsangebote für Jugendliche im Rahmen der Ausbildungsgarantie.
Und gerade erst beschlossen wurde, dass mit 1.1.2017 das Fachkräftestipendium wieder eingeführt wird, mit 6.500 Plätzen. „Die arbeitsplatznahe Qualifizierung (AQUA) ermöglicht eine praxisnahe Aus- und Weiterbildung für die konkreten betrieblichen Anforderungen.“ Speziell für Personen ab 18 eröffnet die Facharbeiter-Intensivausbildung neue Möglichkeiten, einen Lehrabschluss nachzuholen.
„Wenn es eine wertschätzende Haltung gegenüber unserer Jugend gibt und die Vorbildwirkung funktioniert, dann werden junge Menschen die kommenden Herausforderungen trotz steigender Dynamik und höherer Komplexität auch meistern“, ist WK-Vizepräsident Martin Felder überzeugt.