Das Phänomen Ferrante
Weltweit gefeiert, zigfach verkauft: Was ist dran am Hype um Elena Ferrantes „neapolitanische Saga“, deren erster Band „Meine geniale Freundin“ jetzt auch auf Deutsch vorliegt?
Von Friederike Gösweiner
Innsbruck –In der Zeit prophezeite Iris Radisch, dass dieser Roman in die Literaturgeschichte eingehen werde, der Guardian feierte die englische Ausgabe als „global literary sensation“ und Star-Autor Jonathan Franzen äußert auf der Rückseite des Buchumschlags seine „tiefste Dankbarkeit“ gegenüber jener Autorin, über die derzeit jeder spricht und von der keiner weiß, wer sie ist. Die Rede ist von Elena Ferrante, der „großen Unbekannten der Gegenwartsliteratur“, und dem ersten Teil ihrer rund 1700-seitigen, vierbändigen neapolitanischen Saga mit dem Titel „Meine geniale Freundin“.
In Italien und im angloamerikanischen Raum – das Original wurde 2011 publiziert, die englische Übersetzung folgte rasch – begründete „L’amica geniale“, so der Originaltitel, Ferrantes Welterfolg, deutsche Verlage zeigten sich zunächst zögerlich, doch jetzt bringt Suhrkamp bis Ende 2017 in rascher Abfolge alle vier Bände der „neapolitanischen Saga“ heraus. Das Erscheinen des ersten Teils der Tetralogie wurde hierzulande wenig überraschend von großem medialem Brimborium begleitet: hymnische Kritiken wie jene von Radisch auf der einen Seite, ehrgeizige Versuche, das „Phänomen Ferrante“ um jeden Preis zu entzaubern, auf der anderen. Unter dem Hashtag #ferrantefever können Leser ihre „Ferrante Experience“ mit der Web Community teilen und sich auf www.elenaferrante.de nicht nur durch die Vielzahl an Postings, die sehr oft lediglich das Buchcover zeigen – entweder in ein Selfie gemogelt oder schön drapiert mit Blume an einem Platz in der Sonne – „wischen“, sondern erfahren etwa auch, dass Hillary Clinton Ferrante liest – und liebt, natürlich, und wie.
Dieser Hype hilft dem Leser am Ende aber recht wenig, um herauszufinden, ob er sich auf dieses Monumentalwerk einlassen soll. Und das ist letztlich die entscheidende Frage, denn wer erst einmal mit der Lektüre des Romans begonnen hat, der wird sehr wahrscheinlich den starken Drang verspüren, ihn auch zu Ende zu lesen. Das ist nämlich die augenscheinlichste Qualität des Bestsellers: „Meine geniale Freundin“ hat durchaus Suchtpotenzial. Es ist konzipiert wie eine Fernsehserie, arbeitet mit Cliffhangern und dramatischen Höhepunkten, verfügt über ein beachtliches Figurenarsenal, mit dem man sich leicht identifizieren kann, und strotzt geradezu vor „story“ oder eher: vor kleinen Storys, vor klug erdachten Episoden, die handwerklich sehr gekonnt ineinandergewoben sind. Gemacht ist der Roman zweifellos souverän, zugleich wirkt er aber auch recht konventionell. Ob es thematisch und stilistisch also jenes epochemachende Werk ist, zu dem es schon jetzt deklariert wird, sei dahingestellt. Allein auf Basis des ersten Teils kann dies wohl auch kaum entschieden werden – über „Anna Karenina“ würde man schließlich auch nicht nach dem ersten Romanviertel ein endgültiges Urteil fällen wollen.
Vielversprechend ist der erste Teil jedoch allemal. Erzählt wird darin die Geschichte zweier Mädchen, der Ich-Erzählerin Elena, „Lenú“, und ihrer Freundin Lila, die im Arbeiterviertel Rione im Neapel der 1950er-Jahre aufwachsen. Die Rahmenhandlung bildet das plötzliche Verschwinden Lilas, das Lenú Anlass gibt, die Geschichte dieser lebenslangen Frauenfreundschaft nachzuzeichnen – beginnend mit der Kindheit und Jugend, die der erste Roman, sprachlich routiniert, wenn auch nicht kunstvoll, behandelt. Beide Mädchen stammen aus ärmlichen Verhältnissen, beide fallen in der Schule als intelligent auf, die temperamentvolle Lila ist im Gegensatz zur stillen Lenú aber eine wahre Überfliegerin, bringt sich – eben tatsächlich genial – Lesen und Schreiben selber bei und lernt später allein Latein und Griechisch, auch wenn sie nicht ins Gymnasium darf wie Lenú…
So verschieden die Persönlichkeiten der beiden Mädchen, so verschieden gestalten sich am Ende die Wege, die sie aus dem Elend des Rione herausführen sollen. Was überzeugt, ist die feine psychologische Zeichnung der Figuren, die Durchdringung des Wesens dieser innigen Mädchenfreundschaft, vor deren Hintergrund das Neapel der Nachkriegszeit lebendig wird. Wen das stofflich interessiert, der sollte „Meine geniale Freundin“ kaufen. Teil 2 erscheint auch bereits im Jänner 2017.
Roman Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Aus dem Italienischen von Kathrin Krieger. Suhrkamp, 422 Seiten, 22,70 Euro.