EU debattiert nach dem Brexit-Schock über Neuanfang
Bratislava/London (APA/AFP) - Startschuss für einen Neuanfang der EU ohne Großbritannien: Drei Monate nach dem Austritts-Votum der Briten di...
Bratislava/London (APA/AFP) - Startschuss für einen Neuanfang der EU ohne Großbritannien: Drei Monate nach dem Austritts-Votum der Briten diskutierten die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Länder am Freitag in Bratislava über ihre künftige Kooperation und eine gemeinsame Linie in der Flüchtlings- und Wirtschaftspolitik. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer „kritischen Situation“ für die EU.
Ein EU-Vertreter schilderte die Gespräche in der slowakischen Hauptstadt als „ehrlich und offen“ und ohne gegenseitige Schuldzuweisungen. Etliche Mitgliedstaaten hätten die Themen Außengrenzen und Migration als Hauptgrund für das schwindende Vertrauen in die Europäische Union hervorgehoben, andere hätten auf die Terrorgefahr und die Globalisierung verwiesen.
Spätestens zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge Ende März 2017 soll festgelegt werden, wie eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen innere und äußere Sicherheit aussehen kann und wie zusätzliche Investitionen angeschoben werden können. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat bereits angekündigt nach dem Treffen in Bratislava einen detaillierten Fahrplan für die Zukunft der EU vorlegen zu wollen. Am Donnerstagabend hatte er eine „nüchterne und brutal ehrliche“ Bestandsaufnahme gefordert.
Die Visegrad-Staaten preschten gleich mit einem eigenen Konzept vor. In dem beim Bratislava-Gipfel veröffentlichten Konzept fordern sie unter anderem mehr Mitspracherechte für die nationalen Parlamente, stemmen sich gegen eine verpflichtende Flüchtlingsquote sowie eine Aufweichung des Euro-Stabilitätspaktes. Klare Unterstützung gibt es für die Idee der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini einer „gemeinsamen Verteidigungsstruktur“, die eine Vorstufe zu einer EU-Armee sein könnte.
Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) legte seinen Fokus auf den nötigen wirtschaftlichen Aufschwung. Es gehe um „Wachstum, Wachstum und noch einmal Wachstum“, erklärte er bei seiner Ankunft in der Burg von Bratislava. „Der Brexit ist ja nicht ein Ausdruck gewesen, dass man kein Vertrauen in die EU-Institutionen hat. Es ist Enttäuschung darüber, dass das Versprechen der Wohlfahrt, dass es den nächsten Generationen besser gehen wird, und dass das Versprechen der Sicherheit nicht mehr überzeugend eingehalten wird.“
„Es geht darum, durch Taten zu zeigen, dass wir besser werden können“, sagte Merkel. Dies gelte insbesondere für die Sicherheitspolitik, die Terrorbekämpfung und die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Auch „Fragen des Schutzes unserer Außengrenze“ sowie die Bekämpfung von Fluchtursachen stünden auf der Tagesordnung. Es solle aber auch gezeigt werden, „dass wir besser werden können in den Fragen von Wachstum und Arbeitsplätzen“, sagte die deutsche Kanzlerin.
Der französische Präsident François Hollande forderte einen „neuen Impuls“ für Europa und verlangte vor allem eine Stärkung der europäischen Verteidigung. Europa müsse „in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen“. Merkel und Hollande wollten nach dem Gipfel zusammen vor die Presse treten. Im Vorfeld hatten Deutschland und Frankreich gemeinsame Vorschläge im Bereich der Inneren Sicherheit und Terrorbekämpfung sowie bei der Stärkung der europäischen Verteidigung vorgelegt.
Mit Blick auf die Flüchtlingskrise sei der Tenor in Bratislava, „dass wir so eine Situation wie im vergangenen Herbst nie wieder bekommen“, hieß es aus Verhandlungskreisen. Hier enthalte der geplante Fahrplan „sehr konkrete Themen“ wie Grenzposten, Überwachung und Verteidigung. Kern sagte, dass die EU Bulgarien bei der Sicherung der Grenze zur Türkei stärker unter die Arme greifen wolle. Er griff damit eine Forderung der Visegrad-Staaten auf.
Für Furore hatte vor dem Gipfel die Forderung von Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn gesorgt, Ungarn wegen des Vorgehens gegen Flüchtlinge sowie gegen Presse und Justiz aus der Union auszuschließen. Dazu ging sein Ministerpräsident Xavier Bettel in Bratislava auf Distanz: „Das ist nicht die Position meiner Regierung“, sagte er. Europa müsse „die Probleme in der Familie diskutieren“. Es helfe nicht, „jemanden rauszuwerfen“.
Die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien waren offiziell kein Thema, wurden aber bei einem Arbeitsessen auf einem Donau-Kreuzfahrtschiff angeschnitten, wie aus Diplomatenkreisen verlautete. Die auf zwei Jahre angelegten Gespräche beginnen erst nach einem offiziellen Austrittsantrag, der Anfang 2017 erwartet wird.