Terrorismus

Belgien: Trügerische Ruhe in einem erschütterten Land

Soldaten, schwer bepackt mit Westen und Maschinenpistolen, bewachen den Flughafen, wichtige Bahnhöfe, die EU-Kommission. Mehr als 1.800 Mann sind immer noch in dem Einsatz.
© REUTERS

32 Menschen verloren bei einem Terroranschlag im März ihr Leben.Das kleine Land, das als Zentrum für Islamisten gilt, kämpft noch immer mit den Folgen.

Brüssel – An einer vom Schmutz der Stadt gezeichneten Säule am Eingang der Metro-Station Maelbeek hängen die 32 Namen. Melanie, Olivier, Jingquan, David, Sabrina ... Die 32 verlorenen Leben des 22. März in Brüssel. „Tristesse“ hat jemand mit Kuli auf das kopierte Plakat geschrieben. Darüber klebt ein Herz in den belgischen Farben.

Es ist ein steingrauer Dienstagmorgen im Brüsseler Europaviertel, über die Rue de la Loi quält sich dichter Verkehr, aus der U-Bahn streben Menschen in Anzügen den hässlichen Betonklötzen zu. An genau so einem Dienstagmorgen hat sich hier vor einem halben Jahr in einer U-Bahn der Jihadist Khalid El Bakraoui in die Luft gesprengt. Kurz zuvor hatten schon zwei seiner Komplizen den Flughafen Zaventem angegriffen. Die Täter mordeten angeblich im Auftrag des Islamischen Staats. 32 Tote, 324 Verletzte.

„We shall overcome“

Ein halbes Jahr später scheint hier alles wieder normal, die Passanten achten nicht weiter auf die großen Gedenktafeln unten im Bahnhof, wo Dutzende ihre Trauer und Unterstützung hinterlassen haben. „We shall overcome“, steht übergroß am Rand. Aber wirklich überwunden hat Brüssel den Schock noch lange nicht. Nicht politisch - eine Kommission untersucht immer noch, wie es zu den Anschlägen kommen konnte und die Regierung von Ministerpräsident Charles Michel feilt an einem neuen Sicherheitskonzept -, nicht wirtschaftlich und auch nicht im Alltag.

Sechs Monate nach diesem fatalen 22. März herrscht immer noch „Alarmstufe gelb“. Soldaten, schwer bepackt mit Westen und Maschinenpistolen, bewachen den Flughafen, wichtige Bahnhöfe, die EU-Kommission. Mehr als 1.800 Mann sind immer noch in dem Einsatz, der schon nach den Pariser Terroranschlägen Anfang 2015 begann und danach immer mehr ausgeweitet wurde.

Selbst die Militärführung verliert inzwischen die Geduld, weil kein Ende abzusehen ist. „Ich glaube, jeder ist überzeugt davon, dass es an der Zeit ist“, die Präsenz zurückzufahren, sagte General Marc Compernol der Zeitung „La Libre Belgique“. Nötig sei aber zunächst ein Signal, dass das Land tatsächlich wieder sicherer geworden sei.

Hotels und Gastronomie mit drastischen Rückgängen

Der Flughafen Zaventem, der durch die beiden Bomben schwer beschädigt wurde und monatelang repariert werden musste, setzt auf neue Technik, um die Militär- und Polizeipatrouillen letztlich zurückzufahren. So sollen zum Beispiel Kameras die Nummernschilder der anfahrenden Autos erfassen, wie das Innenministerium der Nachrichtenagentur Belga bestätigte. Aber so weit ist es noch nicht. Vieles scheint noch provisorisch. Immer noch dient ein großes Zelt den Vorkontrollen der Passagiere.

Immerhin normalisiert sich das Passagieraufkommen an dem Airport. Davon ist der Tourismus insgesamt in Brüssel noch weit entfernt. Im Monat nach den Anschlägen waren die Hotels nur zu knapp 54 Prozent ausgelastet, 22 Prozentpunkte weniger als ein Jahr zuvor, im Juni waren es mit 66,3 Prozent immer noch 19,6 Punkte weniger. Auch die Museen meldeten drastische Rückgänge.

Der Hotel- und Gaststättenverband beklagt leere Restaurants in der Innenstadt, die sonst mit der berühmten Grand Place Touristen in Scharen anlockt. „2016 ist ein ‚Annee Horibilis‘ - verloren“, sagte der Hotelexperte des Verbands, Eric Catry, laut Belga. Die Regierung erwartet Einnahmeausfälle von 760 Millionen Euro, davon allein ein Minus von 359 Millionen Euro wegen verminderter Steuereinnahmen aus der Gastronomie. Insgesamt, schätzt die Zentralbank, werden die Folgen des Terrors dieses Jahr wohl 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum kosten.

„Risiken werden vielfältiger“

Wirklich berechenbar ist das kaum, eben sowenig wie die psychologischen Folgen der Anschläge. Bei Vielen fährt nun in der U-Bahn die Angst mit - oder sie blicken auf der Straße über die Schulter. Denn Anfang August schlug wieder ein Terrorist zu, diesmal in Charleroi, wo der Mann zwei Polizistinnen mit einer Machete verletzte. Auch dazu bekannte sich die Terrormiliz IS.

„Die Risiken werden vielfältiger“, sagt Charles Picque, Bürgermeister der Brüsseler Gemeinde Saint-Gilles und Präsident des Brüsseler Regionalparlaments. „Die Dinge passieren nicht immer dort, wo man es annimmt.“ Die Täter setzten auf den Überraschungseffekt und attackierten nun eher ungeschützte Ziele. „Man muss vielleicht nicht so sehr vor massiven organisierten Anschlägen Angst haben, vielleicht eher Einzeltaten“, meint der langjährige Lokalpolitiker. „Wir sind heute vor einem Krieg, nicht nur mit Leuten, die eine große Menge Sprengstoff dabei haben, sondern mit Einzelnen, die sehr gut schon morgen mit einer Axt angreifen könnten oder einem Auto.“

„Lasst und aufrecht bleiben“

Es kann jeden treffen, jederzeit - das ist das Gefühl, das die Terroristen verbreiten wollten. Und es ist schwer, diese Angst klein zu halten. Im August schürte eine - letztlich falsche - Bombendrohung gegen zwei Flüge Richtung Brüssel sofort schlimmste Befürchtungen, dann wenige Tage später eine Frau, die mit einem Messer in einem Brüsseler Bus auftauchte und drei Menschen leicht verletzte. Jeder Verwirrte, jeder Kriminelle, jede Gasexplosion weckt sofort düstere Ahnungen.

Die Menschen, die sich immer noch an den Gedenktafeln in der Metrostation Maelbeek verewigen, setzen dieser Angst vor allem Trotz entgegen. „Dieser Horror kann überall passieren“, hat einer dort geschrieben. „Aber lasst uns aufrecht bleiben. Lasst uns feiern, trotz allem.“ Und daneben, in einem großen Herzen: „Brüssel, wir bleiben an deiner Seite.“ (APA, dpa)