Die Idee für Großserbien ist noch lange nicht Geschichte

Belgrad (APA/dpa) - Vor 30 Jahren formulierten Top-Wissenschaftler das nationalistische Programm für ein Großserbien. Nach vielen Kriegen mi...

Belgrad (APA/dpa) - Vor 30 Jahren formulierten Top-Wissenschaftler das nationalistische Programm für ein Großserbien. Nach vielen Kriegen mit mehr als 100.000 Toten ist diese Idee noch nicht gestorben.

Je tiefer die wirtschaftliche und soziale Krise im EU-Beitrittsland Serbien wird, desto mehr klammern sich selbst junge Menschen an die alten nationalistischen Ideen. Diese wurden vor drei Jahrzehnten von der Serbischen Akademie der Wissenschaften formuliert und sind in breiten Bevölkerungsschichten immer noch topaktuell.

Die Kernthesen: Die Serben werden im damaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien ungerecht behandelt. Wirtschaftlich kommen sie zu kurz, politisch und gesellschaftlich sind sie von den anderen, viel kleineren Nationen unterdrückt. In den folgenden Jahren war das die ideologische Grundlage und politische Rechtfertigung für die von Serben geführten Kriege in Slowenien, Kroatien, Bosnien und im Kosovo zwischen 1991 und 1999.

Die Spitzenwissenschafter beklagten in ihrem „Memorandum“ den „physischen, politischen, rechtlichen und kulturellen Völkermord“ ihrer Landsleute in der vernachlässigten und angesichts von Abwanderung fast nur noch von Albanern bewohnten Provinz Kosovo. Ihrer Minderheit in Kroatien „geht es schlechter als jemals in der Vergangenheit und nie war sie so bedroht“. Die Wurzel allen Übels sahen die Verfasser darin, dass angeblich 3,3 Millionen Serben, also „40,3 Prozent ihrer gesamten Zahl“, außerhalb des serbischen Kernlandes als Minderheit lebte. Das war sechs Jahre nach dem Tod Titos der Startschuss zum Projekt Großserbien, in dem „alle Serben in einem Staat“ leben sollten.

Für dieses Ziel waren dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic auch Kriege recht. Er ist nach vielen Niederlagen seiner Armee und Paramilitärs ohne Urteil im Haager UNO-Kriegsverbrechertribunal 2006 an Herzinfarkt gestorben. Aber viele seiner damaligen Mitstreiter sind heute wieder in Amt und Würden: Regierungschef Aleksandar Vucic, damals als Informationsminister für die Knebelung der Medien zuständig, hat heute den großserbischen Ideen abgeschworen und will als lupenreiner europäischer Demokrat gelten. Milosevic-Sprecher Ivica Dacic ist Außenminister, der vom Tribunal freigesprochene einstige nationalistische Hetzer Vojislav Seselj Oppositionsführer.

Einige der alten Milosevic-Getreuen haben nichts gelernt, bereuen nichts. Die einstige Nummer zwei hinter dem Autokraten Milosevic, Borisav Jovic, hat gerade ein neues Buch unter dem Titel vorgestellt „Wie die Serben ein ganzes Jahrhundert verloren haben“. Hier stehen wieder genau dieselben alten Thesen und Verschwörungstheorien. Dunkle ausländische Mächte, der Vatikan und alle anderen jugoslawischen Völker hätten Serbien so sehr geschadet, dass es sich immer noch nicht davon erholt hat.

Oder der Milosevic-Zögling, der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic. Obwohl er gerade erst zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde, hat er an den UNO-Sicherheitsrat geschrieben. Das Gremium solle gefälligst die skandalösen „Fehlurteile“ des Kriegsverbrechertribunals gegen „das ganze serbische Volk“ aufheben.

Der renommierteste deutsche Serbien-Historiker Holm Sundhaussen beurteilt in seinem Standardwerk das Memorandum der Akademie von 1986 so: „Es entpuppt sich als paranoides Pamphlet zur Lage des serbischen Volkes“ und „setzt sich zusammen aus unbewiesenen Behauptungen und Beschuldigungen“: „Die Autoren reaktivieren alte Feindbilder, Stereotypen und Vorurteile“. Der nationalistische Geist, der am 24. September 1986 mit ersten Auszügen des Memorandums in der damals größten Belgrader Zeitung „Vecernje Novosti“ aus der Flasche gelassen war, ist heute noch bei weitem nicht wieder eingefangen.