„Neue Landnahme“ eines Aufsteigers - „Orbans Ungarn“ von Paul Lendvai
Wien (APA) - Das Phänomen Viktor Orban beschäftigt schon seit längerem politische Analysten. Der kometenhafte Aufstieg, die langjährige Karr...
Wien (APA) - Das Phänomen Viktor Orban beschäftigt schon seit längerem politische Analysten. Der kometenhafte Aufstieg, die langjährige Karriere und das umfassend ausgebaute Machtsystem des ungarischen Premiers faszinieren, irritieren oder ängstigen - je nach Beobachter. Nun hat Österreichs langjähriger Osteuropa-Experte Paul Lendvai sich in einem schmalen, aber umfassenden Band des Fidesz-Chefs angenommen.
„Orbans Ungarn“ will vieles in einem sein - Biografie, Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse. Und trotz seiner Kürze von nur 240 Seiten gelingt Lendvais Buch dies auch ausnehmend gut. Besonders beeindruckt dabei der Kenntnisreichtum und die langjährige Erfahrung des selbst aus Ungarn stammenden Autors, die auf jeder Seite zu spüren sind. Lendvai konzentriert sich weder bloß auf die Person Orbans, noch ausschließlich auf die „heißen“ Themen wie Mediengesetz oder Sondersteuern, sondern bietet ein breites Bild der politischen und historischen Voraussetzungen von Orbans Aufstieg wie auch seiner Herrschaft. Für nicht-ungarische Leser dürfte vor allem die ausführliche Darstellung von Orbans hierzulande wenig bekanntem Hofstaat und den Profiteuren seines Regimes interessant sein.
Besonders angenehm ist der analytische, nüchterne Ton des Autors - auch wenn er in jeder Zeile seine Ablehnung von Orbans Politik klar macht und fast nur Kritiker des Premiers zitiert. Trotzdem spürt man das ehrliche Interesse eines historischen Beobachters, dem schillernden, aber auch irgendwie unzugänglichem Phänomen Orban auf die Spur zu kommen. Lendvai sieht die Wurzeln des Machtstrebens seines Protagonisten vor allem in dessen ärmlicher Kindheit in einem kleinen Dörfchen - deren vergleichsweise primitive Lebensumstände er ausführlich schildert -, wie auch in den persönlichen Verletzungen durch liberale Budapester Intellektuelle am Anfang der politischen Karriere des jungen Juristen.
Während sich die erste Hälfte des Buches im Stil einer Biografie Orbans Aufstieg und Karriere widmet, tritt sein Werdegang als Person in der zweiten Hälfte zurück zugunsten einer breiteren Darstellung seiner „neuen Landnahme“ und des dadurch entstandenen „neuen“ Ungarn. Immer wieder kommt Lendvai dabei auf die Gretchenfrage zu sprechen: Ist Orbans System noch eine Demokratie oder bereits ein autoritäres Regime im klassischen Sinn?
Der Autor umkreist das Thema vor allem mithilfe von vielen Zitaten aus der Feder von Orban-Kritikern, von denen mehrere deutliche autoritäre Züge an der Orban‘schen Einrichtung erkennen. Lendvai selbst hält sich mit der Beurteilung zurück, äußert sich zum Teil auch widersprüchlich. Letztlich spart er zwar nicht mit Kritik an dem „Ende der Gewaltenteilung“ oder der Aushöhlung der demokratischen Institutionen, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass sich in Ungarn - anders als in „klassischen“ autoritären Regimes - sowohl die Opposition wie auch regimekritische Medien offen äußern können und niemand aus politischen Gründen eingesperrt wird. Der Journalist selbst hat kein eindeutiges Fazit, nur dieses: Orbans Ungarn sei in vielerlei Hinsicht einzigartig.
( S E R V I C E: Paul Lendvai: „Orbans Ungarn.“ Kremayr & Scheriau 2016, 240 S., 24 Euro )