Unfähig, einen Koffer zu öffnen: Chinas verwöhnte Einzelkinder
Intellektuell brillant, für den Alltag untauglich. So präsentieren sich viele Einzelkinder in China. Das Buch „Kleine Kaiser“ zeigt, was Helikopter-Eltern anrichten.
Berlin – Sie werden „Kleine Kaiser“ genannt oder „Kleine Sonnen“. Sie sind der Augapfel ihrer Eltern, werden von ihnen verhätschelt und verwöhnt. Chinas Einzelkinder haben die beste Ausbildung genossen und studieren oft an hochkarätigen ausländischen Universitäten, doch fürs praktische Leben sind viele völlig untauglich. Sie haben noch nie ein Gemüsemesser in der Hand gehalten oder einen Koffer geöffnet. Hilflos wie Babys stehen sie vor den alltäglichsten Verrichtungen – und machen dies dann ihren Eltern zum Vorwurf.
In ihrem Buch „Kleine Kaiser“ entwirft die chinesisch-englische Autorin Xinran das beunruhigende Porträt einer Generation, die sich anschickt, die Geschicke des Riesenreiches zu übernehmen und darauf nur schlecht vorbereitet zu sein scheint. Es ist die erste Generation in China, die abseits traditioneller Großfamilien und ihrer hergebrachten Werte aufwächst. Sie symbolisiert einen kulturellen Umbruch, dessen Radikalität wir uns hier im Westen zu wenig bewusst sind.
Besseres Leben für die Kinder
Denn was bedeutet es für eine Gesellschaft, die traditionell das Alter ehrt, wenn plötzlich alles um den einzigen Sprössling kreist? Und wenn in einer Kultur, die stets die Gemeinschaft an die erste Stelle setzte, jetzt das Individuum und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen? Natürlich führt das zu schweren Verwerfungen. In den neun Lebensgeschichten dieses Buches spiegeln sich all diese Umbrüche und Konflikte wider.
Die Eltern der hier porträtierten jungen Männer und Frauen hatten in der Regel ein schwieriges Leben. Sie wurden von Staat und Gesellschaft fremdbestimmt, wuchsen unter kümmerlichen materiellen Verhältnissen auf und hatten nicht entfernt die Bildungsmöglichkeiten, die sie sich gewünscht hätten. Kein Wunder, dass sie ihren einzigen Kindern nun ein besseres Leben ermöglichen.
So etwa Du Zhuangs Vater, der es schaffte, sich unter widrigen Verhältnissen zu einem der ersten Industriekapitäne Chinas hochzuarbeiten. Natürlich muss sein Sohn studieren und dann auch ins Ausland gehen. Eine Weile lebt Du Zhuang im Haushalt der Autorin in London, wo er durch seine komplette praktische Unfähigkeit auffällt. Du Zhuang ist nicht in der Lage, allein seinen Koffer auszupacken und seine Kleider in einen Schrank zu hängen. Seine Mutter kontrolliert ihn regelmäßig per Handy aus China und gibt ihm Anweisungen. Aber Du Zhuang ist beileibe kein Einzelfall.
Hoher Intellekt, aber kein Hausverstand
Im Laufe ihrer Recherche trifft Xinran weitere intellektuell brillante junge chinesische Männer und Frauen, die über keinerlei Alltagstauglichkeit verfügen. Zum Beispiel die Studentin, die im Buch Golden Swallow heißt. Ihre Eltern sind hohe Parteifunktionäre. Da sie das Essen in der Mensa ungenießbar fanden, verdonnerten sie ihre Tochter dazu, während des ganzen Studiums zu Hause zu essen. Ergebnis: „Ich war nie in einer Küche, ich habe nie ein Messer berührt, und ich habe nie im Restaurant ein Essen bestellt!“ Bei ihrem ersten Job in einem Restaurant in Neuseeland scheitert das junge Mädchen entsprechend kläglich.
Die so erfahrenen Demütigungen und Ohnmachtsgefühle bleiben nicht ohne Folge: Viele dieser Einzelkinder empfinden einen lebenslangen Hass und eine Wut auf ihre Eltern, die sie jahrelang abgerichtet und trainiert haben wie Schoßhündchen. Einmal in Freiheit, brechen einige den Kontakt sogar für immer ab. Am Ende steht nicht Dankbarkeit, sondern Sprachlosigkeit.
Es gäbe noch viele andere Aspekte der Ein-Kind-Politik in China zu benennen, die hier nur am Rande vorkommen, wie etwa das systematische Abtreiben von weiblichen Föten. Im Vergleich dazu sind die psychischen Verkrüppelungen verwöhnter Einzelkinder auf den ersten Blick nicht so skandalös, gleichwohl haben sie auch gravierende Folgen. In der Tendenz gibt es das Phänomen der Helikoptereltern auch bei uns. Bei der Diskussion darüber lohnt ein Blick nach China. (dpa)