Ansturm an der Uni: Das war die erste Vorlesung von Heinz Fischer
Alt-Bundespräsident Heinz Fischer widmete sich in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Innsbruck mit der „Rolle des Bundespräsidenten in der Zweiten Republik“. Wir bringen die ganze Rede in Wortlaut.
Innsbruck – Der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer ist, nachdem er vor 40 Jahren an der Innsbrucker Universität habilitiert hatte, als Gastdozent an die Leopold-Franzens-Universität zurückgekehrt. Vor rund 600 Interessierten hielt er am Mittwoch seine Antrittsvorlesung zum Thema „Die Rolle des Bundespräsidenten in der Zweiten Republik“.
Fortsetzung
Hier geht‘s zum zweiten Teil der Antrittsvorlesung:
http://bit.ly/2dkClYZ
Aufgrund des großen Besucherandrangs musste die Vorlesung im Vorfeld in einen größeren Hörsaal verlegt werden, zudem wurde die Lehrveranstaltung im Internet live übertragen. Unter großem Medieninteresse betrat der ehemalige Bundespräsident in Begleitung seiner Ehefrau Margit den Hörsaal. Auch zahlreiche Vertreter aus der Tiroler Landespolitik waren erschienen.
Der Vortrag von Heinz Fischer im Wortlaut
Beginnen möchte ich mit einem Wort des Dankes an die Universität Innsbruck, die mir vor ziemlich genau 40 Jahren die Möglichkeit gab mich als Universitätsdozent zu habilitieren und die mir am 27. Mai 1993 den Titel eines Universitätsprofessors verliehen hat. Zuletzt habe ich im Jänner 2016 vom Rektor der Universität das Angebot erhalten im Wintersemester 2016/17 als Gastprofessor tätig zu sein.
Dieses Angebot habe ich gerne angenommen und die heutige Antrittsvorlesung ist vor allem der „Rolle des Bundespräsidenten in der Zweiten Republik“ gewidmet.
Ich möchte aber mit einigen historischen Betrachtungen beginnen, weil das für das Verständnis der aktuellen Rolle des Bundespräsidenten wesentlich ist.
Meine Damen und Herren! Die Republik Österreich wird in zwei Jahren ihren 100. Geburtstag feiern. Eine zentrale Antriebskraft für den Übergang von der Monarchie zur Republik war die unhaltbar gewordene Lage zu Ende des Ersten Weltkrieges. Die österreichisch/ungarische Monarchie war militärisch, wirtschaftlich und politisch in Auflösung begriffen.
Kaiser Karl versuchte zu retten, was zu retten war und veröffentlichte am 30. Oktober 1918 ein Manifest an seine Völker, in dem er auf alle Anteile an den Regierungsgeschäften verzichtete. Das war ein Machtverzicht, aber kein Thronverzicht und schon gar ein Abschied von der Monarchie.
Und das war zu diesem Zeitpunkt zu wenig und zu spät.
Die Monarchie begann sich in einzelne Nationalstaaten aufzulösen und im Zuge dieser Ereignisse wurde am 12. November 1918 – also am Tag nach dem Waffenstillstand zwischen den kriegführenden Mächten – in Wien die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen.
Der Kaiser und die Monarchie wurden in weiten Teilen der Bevölkerung mit der Schuld am Krieg und mit der Verantwortung für die schrecklichen Kriegsfolgen belastet und die Bemühungen um eine republikanische Verfassung und um die Verhinderung einer Rückkehr zur Monarchie zogen sich wie ein roter Faden durch die Verfassungsdiskussionen in der Gründungsphase der Republik. Davon war die Ausgestaltung des Amtes des Staatsoberhauptes stark betroffen.
Zunächst fungierte das Präsidium der Provisorischen Nationalversammlung mit drei Präsidenten, nämlich Karl Seitz, Jodok Fink und Franz Dinghofer als kollegiales Staatsoberhaupt. Dieser Zustand dauerte nur wenige Wochen – ist uns aber gerade jetzt nicht ganz unbekannt. Nach der Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 übernahm Karl Seitz in seiner Eigenschaft als Präsident der Nationalversammlung provisorisch die Funktion des Staatsoberhauptes mit vorwiegend protokollarischen Befugnissen und ohne den Titel Bundespräsident.
In den nachfolgenden Monaten gab es zahlreiche Verfassungsentwürfe von politischen Parteien, aber auch von Seiten einzelner Persönlichkeiten mit den unterschiedlichsten Varianten für die Rechte und Aufgaben eines Bundespräsidenten.
Beendet wurden diese Diskussionen zunächst mit der Beschlussfassung des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, das am 10. November 1920 in Kraft trat.
Die Grundfrage, ob es ein mit wesentlichen politischen Kompetenzen ausgestattetes Staatsoberhaupt geben soll, wurde mit dem B-VG 1920 verneint, weil vor allem – aber nicht nur – die Sozialdemokratie nach wie vor Angst vor Restaurationstendenzen und einer Rückkehr zur Monarchie hatte.
Die damit im Zusammenhang stehende Streitfrage, wer den Bundespräsidenten wählen sollte, wurde damals konsequenterweise gegen eine Volkswahl und für eine Wahl durch die Bundesversammlung entschieden.
Ein Einfluss auf die Regierungsbildung wurde dem Bundespräsidenten 1920 nicht eingeräumt, vielmehr sollten der Bundeskanzler und die weiteren Mitglieder der Bundesregierung vom Nationalrat auf Basis eines Vorschlages des Hauptausschusses gewählt werden. Die Funktionsperiode des Bundespräsidenten wurde mit vier Jahren begrenzt, wobei nur eine einmalige Wiederwahl vorgesehen war.
Zum Zeitpunkt der ersten Wahl des österreichischen Bundespräsidenten im Dezember 1920 hatte die Sozialdemokratie ihre Rolle als stärkste Partei im Nationalrat bereits verloren und es wurde ein Kompromisskandidat, nämlich der parteilose Wissenschaftler Michael Hainisch von der Bundesversammlung zum ersten definitiven Staatsoberhaupt der jungen Republik gewählt und im Dezember 1924 wiedergewählt.
In den nachfolgenden Jahren haben sich verstärkt autoritäre und antiparlamentarische Tendenzen mit der Zielsetzung eines Führerstaates unter der Leitung sogenannter starker Männer in mehreren mitteleuropäischen Ländern durchgesetzt. In Ungarn stand Admiral Horthy an der Spitze eines autoritären Systems. In Italien war Mussolini an die Macht gekommen. In Deutschland war Hitler auf dem Weg zur Macht. Und in Spanien sollte ein Bürgerkrieg General Franco an die Spitze eines faschistischen Systems führen.
Ähnliche Tendenzen gab es auch in Österreich und das war der Hintergrund für ein zähes Ringen um eine Verfassungsreform mit dem Ziel das Amt des Bundespräsidenten wesentlich zu stärken und den Weg von der Parlamentarischen Republik zu einer Präsidentschaftsrepublik frei zu machen. Es waren dies Vorboten auf dem Weg zu einem Führerstaat.
Der Inhalt der Verfassungsreform von 1929, die bis heute von Relevanz ist, war dann im Wesentlichen folgender:
Der Bundespräsident sollte nicht vom Parlament, sondern vom Volk gewählt werden. Seine maximale ununterbrochene Amtszeit sollte nicht 2 mal 4, sondern 2 mal 6 Jahre betragen.
Er sollte die Möglichkeit erhalten den Bundeskanzler ohne Bindung an irgendwelche Vorschläge zu ernennen, die Regierung zu entlassen und – über Vorschlag „seiner Regierung“ – den Nationalrat aufzulösen.
Er sollte auch Oberbefehlshaber über das Bundesheer sein und ein – allerdings sehr eingeschränktes – Notverordnungsrecht erhalten.
Die zweite Amtszeit von Bundespräsident Michael Hainisch war im Dezember 1928 zu Ende gegangen und sein Nachfolger war daher noch auf der Basis der Rechtslage von 1920 zu wählen. Kandidaten waren der Christdemokrat Wilhelm Miklas, der seit 1923 das Amt des Nationalratspräsidenten bekleidete und der Großdeutsche ehemalige und spätere Bundeskanzler Johannes Schober. Da Schober von den Sozialdemokraten wegen seiner Rolle beim Brand des Justizpalastes von 1927 auf das Entschiedenste abgelehnt wurde enthielten sie sich der Stimme und ermöglichten dadurch im Dezember 1928 die Wahl von Wilhelm Miklas zum zweiten Bundespräsidenten der Ersten Republik.
Nach der Verfassungsreform von 1929 war aufgrund des Verfassungsüberleitungsgesetzes eine Neuwahl des Bundespräsidenten durch das Volk für den 18. Oktober 1931 vorgesehen. Die Wahlplakate waren schon gedruckt, der Wahlkampf im vollen Gange als der sogenannte Pfrimer-Putsch vom 13. September 1931 (ein dilettanischer Versuch eines Staatsstreichs, bei dem sich der steirische Heimwehrführer Pfrimer zum „Volksführer“ ausrief) / aber auch der Zusammenbruch der Creditanstalt als Folge der Weltwirtschaftskrise / dazu führten, dass der Nationalrat Anfang Oktober 1931 – also zwei Wochen vor der für 18. Oktober 1931 festgesetzten Bundespräsidentenwahl – durch ein Bundesgesetz die Volkswahl absagte.
Gleichzeitig einigte sich die Mehrheit des Nationalrates darauf, die Bundesversammlung für 9. Oktober 1931 zum Zwecke der Wahl eines Bundespräsidenten einzuberufen, wobei Wilhelm Miklas mit 103 von 203 abgegebenen Stimmen – 1 Stimme ungültig abermals zum Bundespräsidenten gewählt wurde.
Am 4. März 1933 kam es zur sogenannten Selbstausschaltung des Nationalrates durch den Rücktritt seiner drei Präsidenten. Ein verfassungskonformer Weg zur Wiederaufnahme der parlamentarischen Tätigkeit wurde von der Regierung und den Regierungsparteien nicht gesucht – im Gegenteil: Bemühungen des zuletzt amtierenden Nationalratspräsidenten den Nationalrat zur Wahl eines neuen Präsidiums einzuberufen wurden mit Hilfe der Polizei unterbunden. Als am 23. Mai 1933 unter Missbrauch des sogenannten kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes auch der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet wurde und der Verfassungsbruch damit offen zutage trat, notierte Bundespräsident Miklas in seinem Tagebuch: „Ist das noch ein Rechtsstaat? Nach der Zerstörung des Parlaments jetzt noch die Zerstörung des Verfassungsgerichtshofes, des letzten Ankers verfassungsmäßigen Rechtes“.
Aber zu einer Entlassung der Regierung Dollfuss durch Bundespräsident Miklas kam es nicht. Er hat dies trotz allem entweder nicht gewollt oder nicht gewagt.
Die Regierung setzte den autoritären Kurs fort und erließ durch eine Verordnung vom 1. Mai 1934 eine neue Bundesverfassung. In dieser neuen Verfassung wurde das Amt des Bundespräsidenten mit ähnlichen Kompetenzen wie in der Verfassung von 1929 beibehalten. Aber die Wahl des Bundespräsidenten sollte nicht durch das Volk erfolgen, sondern der Bundespräsident sollte in geheimer Abstimmung von den Bürgermeistern aller Ortsgemeinden des Bundesgebietes gewählt werden. Da die Bürgermeister von Wien oder Linz oder Graz in diesem Gremium ebenso eine Stimme hatten, wie die Bürgermeister in den kleinsten Ortsgemeinden war klar, in welche Richtung das Wahlergebnis ausfallen würde und in welche Richtung es de facto nicht ausfallen konnte.
Ein solcher Wahlvorgang kam aber nie zustande, weil die Amtszeit von Bundespräsident Miklas durch ein Verfassungsübergangsgesetz aus 1934 auf 7 Jahre verlängert wurde und eine Neuwahl daher erst 1941 aktuell geworden wäre, als Österreich als selbständiger Staat nicht mehr existierte.
Ich mache jetzt einen Sprung zum März 1938 und dann zum Frühjahr 1945.
Nach dem Machtantritt von Adolf Hitler in Deutschland im Jänner 1933 und nach der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie in Österreich in den Jahren 1933 und 1934 wurde der Einfluss der Nationalsozialisten in Österreich und der Druck Hitlers auf Österreich immer größer. Ein Putsch-Versuch der Nationalsozialisten im Juli 1934, der zwar scheiterte, in dessen Verlauf aber Bundeskanzler Dollfuss brutal ermordet wurde, bildete die Ouvertüre zu immer neuen Attacken der Nationalsozialisten auf die Selbständigkeit Österreichs. Eine dramatische Unterredung zwischen Bundeskanzler Schuschnigg und dem Führer des Deutschen Reiches Adolf Hitler am Obersalzberg in Bayern am 12. Feber 1938 ließ erkennen, dass Hitler aufs Ganze ging und seine Annexionspläne bzw. Aggressionspläne gegen Österreich mit immer größerer Entschlossenheit verfolgte.
In den nachfolgenden Tagen und Wochen, reifte bei Schuschnigg der Entschluss, Hitler mit einer Volksabstimmung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die österreichische Bevölkerung sollte sehr kurzfristig in einer Volksabstimmung gefragt werden, ob sie an der Selbständigkeit Österreichs festhalten will oder nicht. Die konkrete Fragestellung lautete wie folgt:
„Sind Sie für ein freies und deutsches,
unabhängiges und soziales,
für ein christliches und einiges Österreich?
Für Frieden und Arbeit
und die Gleichberechtigung aller,
die sich zu Volk und Vaterland bekennen?“
In einer amtlichen Aussendung fügte Bundeskanzler Dr. Schuschnigg hinzu: „Kein Wort dieser Parolen, die Euch als Frage gestellt ist darf fehlen.“
Was allerdings fehlte war das Wort Demokratie oder demokratisch.
Als Termin der Volksabstimmung war der 13. März geplant.
Aber es war zu wenig und zu spät.
Hitler ließ sich dadurch von seinen Absichten nicht abbringen. Im Gegenteil: Er beschleunigte seine Annexionspläne, indem er am Vormittag des 11. März an Schuschnigg ein Ultimatum richtete unverzüglich – also noch am gleichen Tag – die Volksabstimmung abzusagen, die österreichische Regierung im Sinne Hitlers umzubilden und für die Ernennung des NS-freundlichen Rechtsanwaltes Dr. Seyß-Inquart zum Bundeskanzler zu sorgen. Widrigenfalls werde die Deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschieren. Schuschnigg trat unter diesem Druck noch am 11. März mit den berühmten Worten: „Gott schütze Österreich“ zurück. Bundespräsident Miklas folgte ihm zwei Tage später und übertrug die Funktion des Bundespräsidenten im Sinne der Verfassung von 1934 auf Bundeskanzler Seyß-Inquart.
Damit war der Weg frei für das sogenannte Anschlussgesetz vom 13. März 1938, dessen Beurkundung dann bereits Bundeskanzler Seyß-Inquart vornahm. Mit dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland gingen auch die Funktionen eines österreichischen Bundespräsidenten und eines österreichischen Bundeskanzlers unter. Arthur Seyß-Inquart wurde nach zweitägiger Tätigkeit als österreichischer Bundeskanzler am 15. März 1938 zum Reichsstatthalter in Österreich ernannt.
Österreich war nach einer kurzen Phase auflodernder Begeisterung über den Anschluss an Deutschland als Teil Deutschlands in den mörderischen Zweiten Weltkrieg hineingezogen worden und hatte den Tod von hunderttausenden Menschen zu beklagen; es hatte viele der besten Köpfe durch Emigration verloren und im Straßenbild war die wachsende Zahl von Invaliden und verkrüppelten ehemaligen Soldaten unübersehbar. Der April 1945 war jener Monat, der im größten Teil Österreichs das Ende des Krieges brachte. Am 30. April hatte Hitler Selbstmord begangen und am 8. Mai wurde der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Europa formal beendet.
Hitler und seine Diktatur waren tot.
Österreich lebte.
Die Hakenkreuzfahnen verschwanden, die Rot-Weiß-Roten-Fahnen erlebten eine Wiederauferstehung.
Mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 wurde die Republik Österreich als selbständiger demokratischer Staat wiedererrichtet. Am gleichen Tag fand im Wiener Rathaus die von der Sowjetischen Besatzungsmacht genehmigte Konstituierende Sitzung einer Provisorischen Staatsregierung statt. An dieser provisorischen Regierung, in der Karl Renner als provisorischer Staatskanzler fungierte waren SPÖ, ÖVP und KPÖ gleichrangig beteiligt. Diese Provisorische Staatsregierung hat die Proklamation über die Wiedererrichtung der demokratischen Republik Österreich erlassen. Im Art. I dieser Unabhängigkeitserklärung hieß es, dass die demokratische Republik Österreich wiederhergestellt ist und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten ist – was einer späteren Übernahme der Verfassungsänderung von 1929 nicht im Wege stand.
Im Art. II hieß es, dass der im Jahr 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluss an Hitler-Deutschland null und nichtig ist und
im Art. III wird zum Zwecke der Durchführung dieser Unabhängigkeitserklärung eine Provisorische Staatsregierung eingesetzt, die aus Vertretern der drei damals existierenden Parteien nämlich SPÖ, ÖVP und KPÖ bestehen sollte und die bis auf weiteres sowohl mit der Gesetzgebungs- als auch mit der Vollzugsgewalt betraut war.
Diese Unabhängigkeitserklärung trägt die Unterschrift des provisorischen Staatskanzlers Karl Renner sowie der Parteivorsitzenden von SPÖ (Adolf Schärf), der neugegründeten ÖVP (Leopold Kunschak) und der Kommunistischen Partei Österreichs (Johann Koplenig).
Die in der Unabhängigkeitserklärung vorgesehene Rückkehr zu den verfassungsrechtlichen Verhältnissen von 1920 konnte zunächst nur sehr langsam voranschreiten. Es gab weder einen gewählten Nationalrat noch einen Bundesrat oder gewählte Landtage und der faktische Aktionsradius der provisorischen Staatsregierung erstreckte sich in der Praxis zunächst nur auf die Bundeshauptstadt und die sowjetische Besatzungszone. Im Westen wurde die Entwicklung in Wien und die Tätigkeit der Provisorischen Staatsregierung mit Vorsicht, um nicht zu sagen mit Misstrauen beobachtet.
Aber eine Länderkonferenz unter Beteiligung von Vertretern aller Bundesländer in Wien im September 1945 schuf die Voraussetzungen für die Durchführung bundesweiter Wahlen. Diese Wahlen fanden am 25. November 1945 statt und erbrachten eine erstaunlich hohe Wahlbeteiligung von 93,27%.
Noch erstaunlicher aber war die Tatsache, einer Mandatsverteilung von 85 ÖVP, 76 SPÖ und 4 KPÖ-Mandaten. Sowohl die absolute Mehrheit der ÖVP als auch die Tatsache, dass die KPÖ mehr als ein Viertel der Stimmen erhofft und weniger als 5% der Stimmen erhalten hatte waren große Überraschungen.
Auf der Basis dieser ersten freien Nationalratswahlen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Drei-Parteien-Regierung mit Leopold Figl als Bundeskanzler, Adolf Schärf als Vizekanzler und einem kommunistischen Minister, nämlich dem Energieminister Karl Altmann gebildet. Altmann hat übrigens über Wunsch der KPÖ die Regierung 1947 verlassen und ab diesem Zeitpunkt war es dann eine Regierung der beiden großen Parteien, also die sogenannte Große Koalition.
Da man neben der ohnehin sehr schwierigen Durchführung einer Nationalratswahl im Jahr 1945 nicht auch noch eine Bundespräsidentenwahl als Volkswahl im Sinne der Bundesverfassungsnovelle 1929 durchführen wollte, kam man überein, den ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik in der Bundesversammlung zu wählen. Einziger Kandidat für diese Funktion war Karl Renner. Renner war ein Mann mit vielen Facetten, dessen große Verdienste als Staatskanzler der Jahre 1918 bis 1920 als Nationalratspräsident von 1931 bis 1933 und als Chef der Provisorischen Staatsregierung und Gründungsvater der Zweiten Republik sehr hoch einzuschätzen sind. Gleichzeitig darf man aber auch seine Fehler und Fehleinschätzungen nicht einfach beiseiteschieben.
Dass Renner in seinem Denken und Fühlen noch immer ein wenig in der Monarchie verankert war – immerhin war er beim Zusammenbruch der Monarchie im Jahr 1918 bereits 48 Jahre alt gewesen – war auch daran zu erkennen, wie er nach 1945 seine Funktion als Bundespräsident anlegte. Wenn es einen der acht Bundespräsidenten der Zweiten Republik gegeben hat, den man als „Ersatzkaiser“ empfinden konnte oder sogar empfinden musste, dann war es Karl Renner. Er liebte und praktizierte das Zeremoniell. Er war derjenige, der sich den Josephinischen Trakt der Hofburg als Amtssitz des Bundespräsidenten aussuchte. Er war übrigens auch derjenige, der das kaiserliche Jagdschloss in Mürzsteg als Sommerresidenz des Bundespräsidenten auswählte.
Renner verdiente zweifellos die Bezeichnung als Staatsmann mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, aber auch seine Fehler in den Jahren 1933 und 1938 waren überdurchschnittlich folgenschwer.
Karl Renner verstarb in der Silvesternacht des 31. Dezember 1950. Inzwischen hatte Österreich begonnen sich aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges hochzuarbeiten. Das in der Ersten Republik auf Konfrontation angelegte politische System war durch eine auf Kooperation beruhende Koalitionsregierung abgelöst worden. Die sogenannte Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unterstützte und ergänzte dieses System. Und während in zahlreichen Nachbarstaaten Österreichs im Südosten, Osten oder Nordosten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kommunistische Systeme etabliert wurden, war und blieb Österreich eine immer stabiler werdende Demokratie.
In der Silvesternacht am 31. Dezember 1950 verstarb Bundespräsident Dr. Renner. Als Kandidaten für seine Nachfolge als Bundespräsident stellte die SPÖ den sozialdemokratischen Bürgermeister von Wien, Dr. Theodor Körner auf. ÖVP-Kandidat war Dr. Gleißner, der langjährige und populäre Landeshauptmann Oberösterreichs, VdU-Kandidat war Burghard Breitner und KPÖ-Kandidat war der Gewerkschafter Gottlieb Fiala. In die Stichwahl kamen Körner und Gleißner und in der entscheidenden Wahl am 27. Mai 1951 wurde Theodor Körner mit 52,1% der Stimmen zum zweiten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt.
Ich setze zunächst fort mit einigen kurzen Hinweisen auf die weiteren Bundespräsidenten der Zweiten Republik.
Über das unprätentiöse Auftreten des Junggesellen Theodor Körner und manche seiner Eigenarten wie z.B. dass er bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit ohne Mantel und Hut ging existierten zahlreichen Anekdoten. In Fragen des Protokolls war er das exakte Gegenteil von Karl Renner. Kurz nach Beginn seiner Amtszeit berief Körner einen damals unbekannten jungen Diplomaten namens Bruno Kreisky als Berater in die Präsidentschaftskanzlei, der allerdings nur zwei Jahre blieb, weil er 1953 zum Staatssekretär im Außenministerium ernannt wurde. Die Zusammenarbeit Körners mit der Regierung Figl/Schärf und in weiterer Folge Figl/Raab gestaltete sich sehr harmonisch. Nur einmal sah sich Körner im Vorfeld einer Regierungsbildung nach den Nationalratswahlen des Jahres 1953 veranlasst einen von der Meinung des damaligen Bundeskanzlers Figl deutlich abweichenden Standpunkt zu vertreten, als Figl über Wunsch einiger Parteifreunde beim Bundespräsidenten sondierte, ob sich dieser nicht eine Drei-Parteien-Regierung unter Einschluss des VdU, der Vorgängerpartei der FPÖ vorstellen könne. Körner verneinte diese Frage mit großer Deutlichkeit.
In die Amtszeit Körners fiel auch der Abschluss des österreichischen Staatsvertrages vom 15. Mai 1955, die Beschlussfassung über das Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 und der Beitritt Österreichs zu den Vereinten Nationen am 14. Dezember 1955.
Es darf an dieser Stelle angemerkt werden, dass die Bundespräsidenten Renner und Körner während ihrer gesamten Amtszeit keinen einzigen Staatsbesuch im Ausland absolvierten. Der erste österreichische Bundespräsident, der eine offizielle Reise ins Ausland übernahm war Bundespräsident Dr. Adolf Schärf, der im Jahr 1958 die Weltausstellung in Brüssel besuchte und in weiterer Folge in unser Nachbarland Schweiz reiste.
Vizekanzler Dr. Adolf Schärf wurde von der SPÖ zum Präsidentschaftskandidaten nominiert, nachdem Theodor Körner am 4. Jänner 1957 verstorben war, während die ÖVP nach längerer Diskussion auf die Nominierung eines Politikers als Kandidat verzichtete und den bekannten parteilosen Chirurgen Dr. Wolfgang Denk nominierte, in der Hoffnung damit auch das Wählerpotential der FPÖ für Dr. Denk gewinnen zu können.
Zur Überraschung vieler wurde Dr. Schärf im ersten Wahlgang mit 51,1% der Stimmen gewählt. Schärf wurde vielfach als akkurater Hofrat in der Präsidentschaftskanzlei, der übrigens ein hervorragendes Personengedächtnis hatte, empfunden. Er hatte sich bereits als Vizekanzler vielfach mit der Funktion und den Aufgaben des Bundespräsidenten beschäftigt und seinen Amtsvorgängern Renner und Körner gelegentlich Ratschläge erteilt. In seiner Amtszeit kam es zu einer gewissen Modernisierung in den Verwaltungsabläufen der Hofburg, zu einer besseren personellen Ausstattung, der im internationalen Vergleich immer noch sehr sparsam ausgestatteten Präsidentschaftskanzlei und zur Ausweitung der internationalen Kontakte des Bundespräsidenten.
Dr. Schärf wurde 1963 für eine zweite Amtsperiode gewählt, starb aber im 75. Lebensjahr nach insgesamt fast 8-jähriger Amtszeit am 28. Februar 1965.
Das vierte Staatsoberhaupt der Zweiten Republik war Franz Jonas. Der letzte noch im 19. Jahrhundert, nämlich 1899 geborene Bundespräsident der Zweiten Republik stammte aus einer Arbeiterfamilie, hatte den Beruf des Schriftsetzers erlernt und war mit meinem Vater befreundet, weil beide überzeugte Esperantisten und sogar Esperanto-Lehrer waren. Jonas war unter seinen Freunden und später auch in der Öffentlichkeit als sehr bescheidener, zurückhaltender, fleißiger und umsichtiger Mann bekannt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war er zunächst Bezirksvorsteher von Floridsdorf, dann als Nachfolger von Theodor Körner Bürgermeister von Wien und dann als Nachfolger von Adolf Schärf Bundespräsident. Sein Gegenkandidat war der ehemalige ÖVP Bundeskanzler Dr. Alfons Gorbach. Jonas wurde in der Bundespräsidentenwahl vom 9. Juni 1965 mit 50,7% der Stimmen gewählt. Seine Wiederwahl am 24. April 1974 erfolgte mit 52,8% der Stimmen.
Eine Premiere während der Amtszeit von Franz Jonas ergab sich aus dem Resultat der Nationalratswahl vom 1. März 1970. Damals erhielt die SPÖ mit Bruno Kreisky als Spitzenkandidaten 81 Mandate, die ÖVP 79 Mandate und die Freiheitliche Partei 5 Mandate. Die Sozialdemokraten waren somit stärkste Partei, hatten aber keine absolute Mehrheit. Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP blieben ebenso wie 1966 erfolglos und so traf Bruno Kreisky mit dem damaligen Obmann der Freiheitlichen Partei, Friedrich Peter, eine Absprache, wonach die SPÖ dem Wunsch der Freiheitlichen nach einer Wahlreform Rechnung tragen werde und die Freiheitlichen im Gegenzug über mindestens ein Jahr hinweg eine SPÖ-Minderheitsregierung tolerieren werden. Auf dieser Basis schlug Kreisky dem Bundespräsidenten eine Minderheitsregierung vor, was Jonas akzeptierte. Bei der nachfolgenden Nationalratswahl im Herbst 1971 erreichte Kreisky jene absolute Mehrheit, die von den Wählerinnen und Wählern bis zum Jahr 1983 bestätigt wurde. Die Wahl des Jahres 1966 war übrigens die erste Nationalratswahl, bei der ich auf der Kandidatenliste stand, jene des Jahres 1971 die erste bei der ich in den Nationalrat gewählt wurde.
Im Sommer 1973 erkrankte Bundespräsident Jonas an einem Krebsleiden, das ihn an der Ausübung seines Amtes immer mehr hinderte. Im März 1974 war er nicht mehr in der Lage seine Aufgaben im erforderlichen Ausmaß zu erfüllen und er ersuchte den Bundeskanzler seine Vertretung zu übernehmen.
Da der Bundeskanzler nach der damaligen Rechtslage das Staatsoberhaupt im Verhinderungsfall allerdings höchstens 20 Tage lang vertreten konnte und im Falle einer längeren Vertretungsnotwendigkeit eine bundesgesetzliche Vorsorge zu treffen war, beschloss der Nationalrat ein Sondergesetz, dem zufolge ab 10. April 1974 die drei Präsidenten des Nationalrates, nämlich Anton Benya, Alfred Maleta und Otto Probst als Kollegialorgan vertretungsweise die Amtsgeschäfte des Staatsoberhauptes übernahmen. Bundespräsident Jonas verstarb am 24. April 1974, sodass seine Vertretung durch das Parlamentspräsidium zunächst nur 14 Tage gedauert hatte. Die Vertretung musste aber bis zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten fortgesetzt werden, sodass in weiterer Folge eine dauerhafte Regelung dahingehend beschlossen wurde, dass in allen Fällen der Verhinderung des Bundespräsidenten, die länger als 20 Tage dauert oder der dauernden Erledigung des Amtes das Präsidium des Nationalrates die Vertretung übernimmt.
Nach dem Tode vom Bundespräsidenten Jonas im Sommer 1974 gab es mehrere Favoriten für eine Kandidatur als Nachfolger. Auf Seiten der SPÖ waren dies zunächst der Nationalrats- und Gewerkschaftspräsident Anton Benya sowie der burgenländische Landeshauptmann Theodor Kery. Auf Seiten der ÖVP wurde der frühere Generalsekretär Klubobmann, Vizekanzler und kurzfristig auch Parteiobmann Dr. Hermann Withalm favorisiert und galt sogar schon als fixer Kandidat, aber es kam anders: Bruno Kreisky – damals auf dem Höhepunkt seiner Macht – entschied sich mehr oder weniger im Alleingang für seinen parteilosen Außenminister Dr. Rudolf Kirchschläger. Und auch in der ÖVP wurde ihm letzten Augenblick das Steuer herumgerissen und statt Hermann Withalm der langjährige Innsbrucker Bürgermeister DDr. Alois Lugger nominiert.
Rudolf Kirchschläger wurde mit 51,7% der gültigen Stimmen gewählt. Er war vor seiner Karriere als Diplomat und Außenminister als Richter tätig und die richterliche und diplomatische Komponente fand auch in seiner insgesamt 12-jährigen Amtstätigkeit ihren Ausdruck. Er war der 5. Bundespräsident der Zweiten Republik und gleichzeitig der erste, der nicht im Amt verstarb, sondern am Ende seiner Amtszeit von der Bundesversammlung verabschiedet wurde und auch noch ein Leben als ehemaliger Bundespräsident führte.
Hier geht‘s zum zweiten Teil der Antrittsvorlesung: http://bit.ly/2dkClYZ