Lyrics als Literatur: Nobelpreis an Dylan „logische Konsequenz“
Stockholm/Wien (APA) - Mit Bob Dylan hat ein seit Jahren oft genannter, aber letztlich doch unerwarteter Name das Rennen um den diesjährigen...
Stockholm/Wien (APA) - Mit Bob Dylan hat ein seit Jahren oft genannter, aber letztlich doch unerwarteter Name das Rennen um den diesjährigen Literaturnobelpreis gemacht. Für FM4-Moderator Martin Blumenau ist die Auszeichnung des legendären Singer-Songwriters „schon eine Überraschung“, meinte er im APA-Gespräch. „Und zwar, nachdem es in den letzten Jahren eher ein Running-Gag war, dass er als Kandidat genannt wurde.“
Konkret bezieht sich der Musikexperte dabei auf einen Aspekt, der für die Entscheidung wesentlich gewesen sein dürfte: „Es geht um die Formalfrage, die bisher auch diesen Argwohn in der Literaturszene hervorgebracht hat: Sind Lyrics, die nicht in Gedichtbänden, sondern als Songs veröffentlicht werden, Literatur oder nicht? Das ist die Gretchenfrage. Und offenbar hat sich das Komitee nun durchgerungen, diese Frage mit Ja zu beantworten. Dass man dann den, der es erfunden hat, auszeichnet, ist die logische Konsequenz.“
Ob nun der Literaturnobelpreis in die Popkultur überschwappt oder Dylan stärker als Hochkultur wahrgenommen werde, sei Blumenau zufolge eigentlich keine Frage. „Das hat sich längst vermischt, bei Bob Dylan geht es nicht mehr um die Einordnung. Er läuft längst unter Hochkultur.“ Wie der Musiker auf die Ehrung reagieren werde, lasse sich ebenfalls nicht sagen. „Es ist die Frage, wie er bisher mit dieser zwischen den Stühlen sitzenden Situation umgegangen ist“, sprach Blumenau seine Favoritenrolle in den jüngsten Jahren an. „Ob das ironisch war oder er sich tatsächlich Gedanken gemacht hat - so wird auch jetzt die Reaktion ausfallen.“
Für die weitere Karriere des 75-Jährigen werde der Literaturnobelpreis vor allem kommerzielle Folgen haben. „Inhaltlich wird der Preis nichts auslösen, denke ich. Ich wüsste nicht, was er bewegen könnte und sehe daher keine Einflussmöglichkeit. Die spannendere Frage ist, was es für die Zukunft des Literaturnobelpreises bedeutet - aber auch die ist offen.“ Blumenau hat vor zwei Jahren gemeinsam mit Eugen Banauch und Alexandra Ganser das Buch „AustroBob“ (Falter Verlag) veröffentlicht, das sich mit der österreichischen Sicht auf den Musiker und der hiesigen Aneignung seiner Kunst auseinandersetzt.
Klaus Kastberger, Leiter des Literaturhaus Graz, sieht die Entscheidung als „der Tendenz nach richtig, aber von der Person her falsch. Man wollte halt der Tatsache gerecht werden, dass Literatur zunehmend anders definiert wird als noch vor zehn Jahren und hat jetzt einen Songwriter genommen. Aber natürlich ist das auch, wie in vielen Fällen, 20 Jahre zu spät.“ Würde man eine „andere Literatur“ prämieren wollen, so käme aus seiner Sicht niemand infrage, „der auf diesen Wettquoten oben ist“, meinte Kastberger gegenüber der APA.
Auch der heute verstorbene Preisträger Dario Fo sei ein Ansatz gewesen, „in eine andere Form von Literatur hineinzugehen, und das ist auch schon Jahre her. Ob Dylan Literatur ist, wird seit 20 Jahren diskutiert. Aber jetzt gibt es eine ganz neue Diskussion, wo alles brüchig ist, was der bürgerliche Betrieb unter Literatur versteht.“ Für den Literaturnobelpreis selbst sieht Kastberger jedenfalls keine Auswirkungen: „Die Akademie wird sich nicht verjüngen oder in ihren Entscheidungen schneller werden. Die Tatsache, dass es eine Akademie ist, heißt ja, dass sie immer 20 Jahre hinter gegenwärtigen Prozessen hinterher hechelt.“
Er habe noch eine andere Erklärung, warum man sich heuer mit Bob Dylan leichter getan hat: „Vielleicht ist ja Elena Ferrante Bob Dylan?“, verwies Kastberger schmunzelnd auf die italienische Autorin, über deren wahre Identität noch immer spekuliert wird. Aber unabhängig davon: „Die Akademie und ähnliche Gremien kommen zusehends in einen eigenen Legitimationszwang. Eine Entscheidung für Bob Dylan klingt in deren Umfeld wahrscheinlich relativ flott und neu und ist ja auch unerwartet. Aber Entscheidungen legitimieren immer die Institutionen, die sie treffen. Es ist aber positiv, dass man von diesem moralischen Kriterium abgekommen ist. Das passierte ja nicht zum ersten Mal. Es gibt Aufweichungsprozesse dieses ganz herkömmlichen Bildes.“