„Kurier“: „Wie Suizidgefährdete überwacht werden“
Wien (APA) - In Österreich begehen pro Jahr im Schnitt zehn Häftlinge Selbstmord. Der Psychiater und ehemalige ärztliche Leiter der Sonderha...
Wien (APA) - In Österreich begehen pro Jahr im Schnitt zehn Häftlinge Selbstmord. Der Psychiater und ehemalige ärztliche Leiter der Sonderhaftanstalt Mittersteig in Wien, Patrick Frottier, hat ein computerbasiertes System mitentwickelt, mit dem seit 2007 in Österreich eingestuft wird, ob ein Gefangener selbstmordgefährdet ist. Im Interview mit dem Kurier (Online) erklärt er am Freitag wie es funktioniert.
Eine permanente Überwachung könne es wegen des Schutzes der Intimsphäre und aus Datenschutzgründen nicht geben, so Frottier. „Wir wollen nicht jemanden per Video beobachten, wie er am Klo sitzt.“ Da dadurch ein gewisses Restrisiko bliebe, müssten die Maßnahmen so engmaschig eingesetzt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiere, deutlich minimiert werde.
Die höhere Suizidrate im Maßnahmenvollzug (113,5 Suizide auf 100.000 Häftlinge) im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung (12,8 Suizide pro 100.000 Menschen) sei dadurch erklärbar, dass diese dem Prozentsatz von Selbstmorden bei psychisch Erkrankten im Allgemeinen sehr ähnlich sei, „psychische Störungen sind suizidale Risikofaktoren.“ Hinzu komme im Maßnahmenvollzug und in der U-Haft, dass nicht klar sei, wann man entlassen werde. In der Strafhaft, wo ein ganz klares Ende gegeben sei, hätten nur die zu lebenslanger Haft Verurteilten eine deutlich erhöhte Suizidrate.
Soziale Risikofaktoren seien zusätzlich der Verlust der vertrauten sozialen Umgebung, der Arbeit und der Familie. Außerdem hätten Gewalttäter ein höheres Aggressionspotenzial. „Wenn die Person die Aggression nach außen nicht mehr ausleben kann, richtet sich das gegen sie selbst“, so Frottier.
Ein Selbstmordattentäter, der überlebt habe, habe ihm einmal erzählt, dass er in Wahrheit versagt habe, berichtet Frottier. „Das Nicht-Erreichen des Ziels kann eine suizidale Konsequenz haben. Das ist ein zweiter Faktor.“ Den Einzelfall in Deutschland könne er nicht bewerten. Aber es sei nachvollziehbar, dass aufgrund der Vorgeschichte ein erhöhtes Risiko vorgelegen hätte. Offensichtlich sei kein Risiko gesehen worden, das sei zu akzeptieren.
In Österreich werde bei einer Suizidgefährdung zuerst Einzelhaft vermieden. „Eine erhöhte Maßnahme wäre das Listener-System, so wie wir es in Österreich auch haben“, erklärt Frottier. Ein Listener sei ein Insasse, der von Fachkräften zu diesem Zweck Supervision erhalte. Ein solcher Listener (Englisch für „Zuhörer“, Anm.) wird derzeit etwa in der Zelle jenes Polizisten eingesetzt, der im Verdacht steht, kürzlich seinen Sohn und seine schwangere Frau ermordet zu haben.
In der nächsten Stufe gebe es eine akute suizidale Gefahr. In diesen Fällen komme es zum Einsatz „einer echten Fachkraft, das kann eine Psychiaterin oder klinische Psychologin sein, die feststellen kann, ob eine psychiatrische Erkrankung und eine suizidale Einengung vorliegt.“ Dann kann die Einlieferung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung mit Dauerbetreuung erfolgen.
Das von Frottier mitentwickelte „Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions (VISCI)“ werde seit 2007 in österreichischen Gefängnissen verwendet. „Natürlich wäre es am besten, wenn bei jeder Aufnahme ein Psychiater oder kompetenter klinischer Psychologe die Einstufung vornimmt. Aber das schaffen sie nicht bei 15.000 Aufnahmen in österreichischen Gefängnissen pro Jahr.“ Daher sei es darum gegangen, der Justiz etwas in die Hand zu geben um die Suizidgefährdung selbst vornehmen zu können, so Frottier. Zwar sei das persönliche Gespräch mit einem erfahrenen Fachmann sicher erfolgreicher, aber auch hier seien Irrtümer möglich.