„steirischer herbst“: Milo Rau trifft mit „Empire“ den Nerv der Zeit

Graz (APA) - Europa, das sind die Geschichten seiner Bewohner, die Basis dessen, was wir leichthin Geschichte nennen. Diesem Umstand widmet ...

Graz (APA) - Europa, das sind die Geschichten seiner Bewohner, die Basis dessen, was wir leichthin Geschichte nennen. Diesem Umstand widmet sich der Schweizer Theatermacher Milo Rau in seiner Europa-Trilogie, deren letzter Teil „Empire“ gestern, Freitag, als Finale des „steirischen herbst“ im Schauspielhaus Graz gastierte. Im Zentrum des dokumentarischen Abends standen diesmal Europas Ränder.

Mit seinem „International Institute of Political Murder“ ist Milo Rau Spezialist für Irritationen und Reenactments aller Art, was er etwa mit „Breiviks Erklärung“ oder „Die Moskauer Prozesse“ eindrucksvoll demonstriert hat. Nach „The Civil Wars“ und „The Dark Ages“, in denen er von Kriegen und Vertreibungen in Ex-Jugoslawien, Russland und Deutschland sowie der Unbehaustheit in Westeuropa erzählt hat, stehen nun vier Schauspieler aus Syrien, Rumänien und Griechenland im Fokus, die ihre Lebensgeschichten auch diesmal wieder in die Kamera sprechen und via Leinwand dem Zuschauer direkt ins Auge blicken. Mittels Montage verwebt Rau die höchst unterschiedlichen Episoden aus Kindheitserinnerungen, Familientragödien, Gewalterlebnissen und schließlich Fluchtgeschichten zu einem homogenen, packenden Abend, der nach seinem Ende noch lange nachwirkt.

Da ist der Kurde Ramo Ali, der in der Kulisse einer Küche - seiner Küche in Syrien - seine Geschichte ausbreitet, die geprägt ist von ärmlichen Verhältnissen in der Großfamilie, väterlicher Gewalt, politischer Unterdrückung und schließlich Gefängnis, Flucht und Tod. Eingespielt werden auf der Videoleinwand auch immer wieder Szenen von einem späten Besuch in der Heimat, der Verabschiedung am Grab des Vaters und schließlich einem Bombenanschlag, der wenige Tage nach seiner Abreise nach Deutschland seine Heimatstadt erschütterte und die Tochter seiner Cousine in den Tod riss. Die Berichte werden emotional, aber ohne Anflug von Wut erzählt, während es im Publikum sitzend schwer fällt, diese Bilder neutral aufzunehmen. Hier geht es um konkrete Menschen, um wahre Begebenheiten, die durch die Personalisierung eine völlig andere Wirkung entfalten als jene Bilder, die tagtäglich in den Nachrichten über die Bildschirme flimmern. Hier wird deutlich: Die blutverschmierte Frau zwischen den Trümmern ist jemandes Cousine, jemandes Mutter, jemandes Frau. So, wie es immer ist, doch fällt hier der Schleier der Anonymität.

Heftiger kommt es in den Erzählungen des zweiten Syrers, Rami Khalaf, der nach einer Beinahe-Verhaftung beschloss, mit einem gefälschten rumänischen Pass nach Europa zu fliehen. Der Bruder ist seit Jahren verschollen, seine Nächte verbringt der Schauspieler, der in Paris bei einem syrischen Radiosender arbeitet, online mit dem Durchkämmen von 12.000 Fotos von toten Männern, die in Assads Gefängnissen den Foltertod starben. Monatelang habe er in den von Gewalt gezeichneten Gesichtern nach seinem Bruder gesucht, rund ein Dutzend dieser Leichen-Porträts werden im Schauspielhaus auf die Leinwand projiziert. Das ist hart, aber nie kommt es in Milo Raus Inszenierung auf den bloßen - grauenvollen - Effekt an. Und so betrachtet man diese ausgemergelten, schwer verletzten, von Hunger und Gefangenschaft gezeichneten, toten Männer, während man Khalaf als einen Überlebenden wahrnimmt, der hier in Europa versucht, sich ein neues Leben aufzubauen.

Von anderen Regimen am Rande Europas erzählen der Grieche Akillas Karazissis und die jüdische Rumänin Maia Morgenstern. Ihre Geschichten sind geprägt von Antisemitismus in Sowjet-Zeiten und Theaterapparaten unter der Militär-Junta. Auch sie erzählen von Entbehrungen, privaten wie politischen. Milo Rau verwebt ihre Erlebnisse mit jenen der beiden Syrer und erschafft so ein Bild von einem Europa, wie es einmal war, wie es von außen gesehen wird und zeigt anhand von vier Individuen, wie der Kontinent sich heute zusammensetzt. Angekommen ist man nach zwei Stunden im Hier und Jetzt. Und wie sieht die Zukunft aus? „Und nun beginnt die Tragödie“, so Karazissis. Und entlässt das nachdenkliche Publikum in einen weiteren Abend in Westeuropa.

(S E R V I C E - steirischer herbst: „Empire“ von Milo Rau im Schauspielhaus Graz. Mit: Ramo Ali, Akillas Karazissis, Rami Khalaf und Maia Morgenstern. Weitere Termine: 15. und 16. Oktober. Infos und Karten: www.steirischerherbst.at)