O‘Neill-Stück in Hamburg: Wuchtig-wilde Schreie aus dem Wohnzimmer
Hamburg (APA/dpa) - „Wir können nicht vergessen“, huscht es auf der Bühne in Leuchtschrift über einen grauen Flachbau. Nebelschwaden steigen...
Hamburg (APA/dpa) - „Wir können nicht vergessen“, huscht es auf der Bühne in Leuchtschrift über einen grauen Flachbau. Nebelschwaden steigen auf, ein sphärisches Dröhnen ertönt. Im Parkett läuft eine verzweifelte Frau (Lina Beckmann) mit wirren Haaren fahrig in Nachtkleidung umher, hält sich die Ohren zu. Wie heimgesucht von Erinnerungen wirkt sie. Und schreit weinend „Ich will nicht zurück“.
Ein junger Mann (Christoph Luser) im Schlafanzug holt sie mit den Worten „Mama, Mama“ wieder ins Haus. Dann blickt er sich über die Schulter und sagt ins Publikum: „Na, kommen Sie doch mit. Wir sind ‚ne Schauspielerfamilie. Wir mögen das.“ Also steigen am Freitag die 200 Besucher im 1.200 Plätze fassenden Schauspielhaus auf Plätze auf der Bühne. Einige Sessel und Sofas stehen sogar mitten im Wohnzimmer der unglücklichen Familie Tyrone aus Eugene O‘Neills Drama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ (Bühne: Thilo Reuther).
Spektakulär mit Konventionen brechend und damit viele Kasseneinnahmen vereitelnd, inszeniert die preisgekrönte Regisseurin Karin Henkel in Hamburg das 1956 uraufgeführte Meisterwerk im intimen Rahmen. Unverkennbar mit der Absicht, hautnahe Teilnahme an der Familientragödie zu bieten. Am Ende spenden die Zuschauer langen Premierenapplaus. Doch gerade inneres Erleben ermöglicht Henkels dreistündige Inszenierung mit vier Hauptdarstellern kaum.
Zu wenig legt die Regie die seelischen Abläufe in den Figuren offen. Mutter, Vater („Polizeiruf 110“-Kommissar Charly Hübner) und ihre erwachsenen Söhne Edmund und Jamie (Felix Knopp) wirken von Beginn an gestört - und zeigen es offensiv. Mit wildem Schreien und Rennen, mit Zuckungen, laufendem Rotz und Sabbern. Für Zwischentöne bleibt den Darstellern wenig Raum. Nur selten ziehen subtile, verdichtete Szenen in ihren Bann - etwa im Dialog der Brüder.
Dabei blickte der US-amerikanische Literaturnobelpreisträger O‘Neill tief in seine Figuren, vermittelte zeitlos gültige Beziehungsabläufe aus Abhängigkeit und Einsamkeit, Lügen und Träumen, Liebe und Hass - auf denen eine nicht abzuschüttelnde Vergangenheit lastet. Das Stück beruht auf seiner Lebensgeschichte. Geschrieben mit „Blut und Tränen, geboren aus frühem Schmerz“, wie O‘Neill es formuliert hat. Mit dem Ziel, den Zuschauern die Vergeblichkeit seines Tuns zu vermitteln und trotzdem weiter an der Verwirklichung seiner Träume zu arbeiten.
Denn allein darauf, meinte der Autor, beruhten Wert und Schönheit des Daseins. O‘Neill selbst offenbart sich in der Rolle des Poeten Edmund, der an Tuberkulose leidet, was er vor der drogensüchtigen Mutter verheimlichen will. Während Lusers Edmund in seiner Strickjacke (Kostüme: Klaus Bruns) meist mit hängenden Schultern dasitzt, muss sich Beckmann körperlich verausgaben. Immer wieder rennt sie als Mary Tyrone ins Zimmer ihres toten Babys, für dessen Tod sie sich schuldig fühlt, um sich ihre versteckten Spritzen zu holen. Oder sie geistert in den Zuschauerraum, um von Selbstmord zu stammeln.
Bei dem drastischen Regiekonzept verwundert es nicht, wenn mit ihr einmal zwölf Doppelgängerinnen im Abendkleid die Treppe herunterschreiten. Klotzig und despotisch verkörpert Hübner den von ihr verabscheuten Ehemann James, einen einstigen Shakespeare-Akteur, in seinem Alkoholismus und krankhaften Geiz. Psychologisch fein zeichnet einzig Knopp den erfolglosen Schauspieler-Sohn Jamie - die Figur, mit der man hier wohl am ehesten mitempfindet. Krass wirkt nicht zuletzt der Sänger Hubert Wild als Dienstmädchen Cathleen in langem schwarzen Rüschenrock. Sein androgynes Wesen spielt auf einem Klavier - und singt wehmütige Weisen mit Countertenor-Stimme (Musik: Arvild J. Baud).
(S E R V I C E - www.schauspielhaus.de)