„Chess“ in Graz: Spannungsgeladenes Schach-Musical im Kalten Krieg
Graz (APA) - Denkt man an Schach, sieht man zwei Menschen, die sich über ein kleines Brett beugen. Denkt man an den Kalten Krieg, taucht ein...
Graz (APA) - Denkt man an Schach, sieht man zwei Menschen, die sich über ein kleines Brett beugen. Denkt man an den Kalten Krieg, taucht eine Weltkarte vor dem inneren Auge auf: Zwei Farben, Westen gegen Osten. Und beides zusammen? Entfaltet Samstagabend bei der Premiere von „Chess“, dem 1986 uraufgeführten Musical der ABBA-Hälfte Benny Andersson und Björn Ulvaeus, in der Grazer Oper einen packenden Kosmos.
Aus dem stillsten Spiel der Welt ein Musical zu schaffen, erscheint auf den ersten Blick als zum Scheitern verurteilte Mission. Doch es gab Zeiten, da Schach politische Dimensionen entwickeln konnte und Weltmeisterschaften zu Publikumsmagneten wurden. So anziehend, dass Andersson und Ulvaeus gemeinsam mit Tim Rice, dem Texter von Welthits wie „Evita“ oder „Jesus Christ Superstar“, das Projekt „Chess“ ins Leben riefen. Als Basis dient der Stellvertreterkampf zwischen dem Amerikaner Bobby Fischer und dem Russen Boris Spasski. Zwei Namen, die damals in aller Munde waren.
„Chess“ hebt bei der Weltmeisterschaft von Meran im Jahr 1981 an, wo damals der in den Westen emigrierte Viktor Kortschnoi gegen den Russen Anatoli Karpow antrat. In der Musicalversion sind es Frederick Trumper und Anatoly Sergievsky, die ihre jeweiligen Länder vertreten. Und wie so oft im Leben wie in der Literatur ist es eine Frau, die das Schicksal beeinflusst. Trumpers Assistentin (und Geliebte) Florence Vassy verliebt sich während der Meisterschaften in den schließlich siegreichen Russen, der im Anschluss um politisches Asyl in den USA ansucht und bei der Folgemeisterschaft in Bangkok gegen einen ehemaligen Landsmann antreten muss. Der Kalte Krieg reicht bis in die letzte Pore dieser Konfrontation. Der KGB versucht, Sergievsky unter Druck zu setzen, ihn mit seiner in Russland zurückgelassenen Ehefrau zu erpressen und setzt selbst Florence auf ihren Freund an, der man verspricht, bei einer Niederlage Sergievskys ihren inhaftierten ungarischen Vater freizulassen. Soweit das Handlungsgerüst.
Gefüllt hat es Regisseur Thomas Winter, der „Chess“ am Theater Chemnitz inszeniert hat, mit so viel Leben, dass die zweieinhalb Stunden in der Grazer Oper wie im Flug vergehen. Im ausgeklügelten Bühnenbild von Ulv Jakobsen, das mit Hebe- und Drehbühne, Vorhängen und modularen Elementen für ästhetisch anspruchsvolle Szenen sorgt, entfaltet sich ein spannender Polit-Thriller rund um Sieg oder Niederlage - im Schach wie in der Liebe. Marc Lamberty als abgeschleckter Schach-Star Trumper trifft auf den korrekten Russen Sergievsky (Nikolaj A. Brucker), der mit der Pop-Inszenierung des amtierenden Weltmeisters Trumper wenig anfangen kann. Zwischen den Männern steht Annemieke van Dam als berechnende Florence. Als strenger Schiedsrichter fungiert Sven Fliege, der dem Stück als entrückter Zeremonienmeister vorsteht und dann doch mehr Strippen zieht, als er eigentlich dürfte.
Die Schachpartien selbst finden zwar an einem Tisch statt, über den sich die Meister nachdenklich beugen, das Duell verkörpert jedoch das Ballett der Grazer Oper, das in Schwarz-Weiß eine Art Schwanensee auf dem Schachbrett vollführt und zu begeistern weiß. Apropos Begeisterung: Am Pult steht der junge Dirigent Tom Bitterlich, der das Grazer Philharmonische Orchester mit Enthusiasmus und großer Sicherheit durch die abwechslungsreiche Partitur führt, die von klassischen Elementen über typische Musical-Motive bis hin zu Rocksongs reicht. Auch auf der Bühne überwiegt stimmliche Sicherheit, lediglich Annemieke van Dam weiß in den Höhen nicht zu überzeugen und hadert hörbar mit den Genre-Wechseln, die Andersson und Ulvaeus „Chess“ verpasst haben. Lamberty überzeugt hingegen auch stimmlich als Dandy-hafter Amerikaner, der in einsamen Momenten auch mal seine ganze Wut über seine Kindheit zur Explosion bringen kann. Brucker ist als in sich ruhender Part allen emotionalen Anforderungen gewachsen.
Und so überzeugt „Chess“ nicht nur musikalisch, sondern auch optisch, wenn Schach-Motive vom kleinen leuchtenden Feld bis zum Säulenwald immer wieder an den Ausgangspunkt der Geschichte erinnern. Ein kraftvoller wie leichtfüßiger Abend, der nicht nur ABBA-Nostalgikern gefallen wird. Oder Schach-Aficionados.
(S E R V I C E - „Chess. Das Musical“ von Benny Andersson, Tim Rice & Björn Ulvaeus. Produktion von Die Theater Chemnitz in der Oper Graz. Musikalische Leitung: Tom Bitterlich, Inszenierung: Thomas Winter, Choreographie: Danny Costello, Bühne und Kostüme: Ulv Jakobsen. Mit dem Grazer Philharmonischen Orchester, dem Chor und Ballett der Oper Graz. In den Hauptrollen: Marc Laberty, Nikolaj A. Brucker, Annemieke van Dam und Sven Fliege. Weitere Termine: 19., 20., 22. und 30. Oktober, 6., 16. und 18. November sowie am 31. Dezember. Infos und Karten unter www.oper-graz.com)
(B I L D A V I S O – Pressefotos stehen unter http://www.oper-graz.com/press/press-images/productions/201617/chess zum Download bereit.)