Linus Reichlins „Manitoba“: Auf Selbst-Suche bei den Ahnen

Berlin (APA/dpa) - Einen Indianer als Vorfahren haben. Das wertet die eigene Existenz gehörig auf, wenn man als Schweizer sonst nur Ahnen au...

Berlin (APA/dpa) - Einen Indianer als Vorfahren haben. Das wertet die eigene Existenz gehörig auf, wenn man als Schweizer sonst nur Ahnen aus der Schweiz vorzuweisen hat. In „Manitoba“ schickt Linus Reichlin seinen Protagonisten auf ein Roadmovie zu seinen indianischen Wurzeln und sich selbst.

Es ist eine melancholische, stellenweise düstere Geschichte, in der Reichlin die Magie der Sprache wieder einmal nutzt wie nur sehr wenige Menschen es vermögen.

Seit seiner Kindheit ist Reichlins Ich-Erzähler bewusst, dass sein Urgroßvater ein Indianer war. Mit sechs lauscht er abends im Bett der von seiner Mutter erzählten Familiengeschichte. Mit zwölf wird das Wissen zu Gewissheit, als der Vater am Mittagstisch scherzhaft sagt: „Was habe ich nur für eine hübsche Squaw!“ Der Junge liest die Tagebücher der Urgroßmutter, in der sie ihre Zeit als Lehrerin bei der St. Stephens‘s Indian Mission in Fort Washakie beschreibt. Das Märchen wird endgültig wahr: „Ich stammte von Indianern ab, genauer von den Arapaho.“

Eigentlich sei merkwürdig, dass er nicht schon 30 Jahre zuvor nach Fort Washakie fuhr, sinniert der 57-jährige Erzähler rückblickend. Allerdings wäre es sicher nicht besser gewesen, wäre er eher gefahren, erfährt der Leser noch vor der eigentlichen Erzählung. „Noch besser wäre es natürlich, wenn ich nie nach Fort Washakie gereist wäre..“

Der erste Indianer, dem er schließlich begegnet in Colorado, ist ein Südlicher Ute, der auf der Auffahrt seines Hauses einen weißen Geländewagen wienert. Später trifft er einen Ute, dessen Sohn Großstadt-Zahnarzt ist und der seine Herkunft leugnet, um potenzielle Kunden nicht abzuschrecken.

Sie gehen ihm zu Herzen, dem Achtel-Indianer, die oft traurigen Geschichten seiner - wenn auch extrem weitläufigen - nordamerikanischen Verwandtschaft. Wohl auch darum, weil hinter ihm die Scherben seiner eigenen Familie liegen. Das wird zum Beispiel herzergreifend deutlich, als beim Lesen von Kafkas Erzählungen ein Zettelchen seiner Frau Hanna zu Boden flattert - vor langer Zeit aufbewahrt in einem Buch, das garantiert nie weggeworfen wird.

„Aber ist es auch klug, solche Zettelchen aufzubewahren? Nein. Denn als ich es jetzt aufhob und wieder las, wollte ich nie mehr lieben, nie mehr auf Versprechungen eines Anfangs hereinfallen, nie mehr der Zeit dabei zusehen, wie sie Liebe fermentiert.“ Herzprobleme plagen den 57-Jährigen, der Schriftsteller ist und dessen Sohn auch Schriftsteller ist, nur erfolgreicher. Das stört den Vater nicht und stört ihn irgendwie doch, weil sein Sohn so merkwürdig kühl ist, immer schon merkwürdig kühl war.

Um diesen Jonas drehen sich nicht viele Passagen des Buches, und doch wird deutlich, dass hier die Basis aller Dinge liegt - der Reise selbst, der schmerzhaften Trennung von Hanna, des Suchens nach dem eigenen Platz im Leben. Jonas habe schon als Kind Ernsthaftigkeit in Ironie verpackt, so der Erzähler. Nur zu seiner Mutter sei er anders gewesen: „netter, liebevoller, bei ihr war er anhänglich und kindlich, sie erlebte nicht den Jonas, den ich erlebte, wir hatten zwei Söhne“.

Jonas findet die Idee seines Vaters zu einem Buch über seine Indianer-Reise nicht gut, Jonas wünscht, dass der Vater zur Verleihung eines Preises für sein eigenes Buch nach Deutschland zurückkehrt. Und doch liebt der Vater seinen Sohn, wie ein Vater seinen Sohn eben liebt. Ihren kurzen Telefongesprächen voller falscher Worte zu folgen, schmerzt.

Der 57-Jährige erreicht schließlich die Heimat des Urgroßvaters im heutigen US-Bundesstaat Wyoming. Extrem gut weiß er über die Arapaho Bescheid, kennt schon lange detailliert die Sitten des Indianervolkes. Und doch fallen ihm erst jetzt Widersprüche zur Erzählung der Urgroßmutter auf - leicht erklär- und entschuldbare, wie er meint: „Ihr Tagebuch, die Quelle unseres Familienwissens über jene Zeit, schrieb sie erst 1948, zwei Jahre vor ihrem Tod.“ 83 Jahre alt sei sie da gewesen und habe eben einiges in geschöntem Licht dargestellt.

So hatte ein Arapaho-Mann mit 26 Jahren üblicherweise schon Frau und Kinder - was er wusste, aber nie im Zusammenhang mit seinem Urgroßvater bedacht hat. „Sie wollte uns etwas Schönes hinterlassen, nicht etwas Wahres“, glaubt der Erzähler. Lange Passagen aus dem Tagebuch folgen, in denen nicht nur der stattliche Arapaho, sondern auch ein zwielichtiger Pelzhändler eine Hauptrolle spielt. Immer wieder geht der Blick des Erzählers zu sich selbst. Schon jetzt empfindet er sich als Geist, ist fremd geworden im eigenen Leben, fragt sich, welche Spuren es im Leben zu hinterlassen gilt.

Es gibt eine Vordergrund-Geschichte in Reichlins Buch: Eine Geschichte von einem halbalten Mann, der nicht mehr weiß oder auch noch nie so recht wusste, wo eigentlich sein Platz ist in diesem Leben, sein Platz in den Ereignissen, den epochalen und den ganz alltäglichen. Dahinter liegen aber viele Geschichten mehr: die einer alten Frau etwa, die ein Tagebuch schrieb, und die von Menschen, denen die Geschichte von Geburt an ein Leben zweiter Klasse bescherte.

Reichlin zeigt ein weiteres Mal, wie virtuos er mit Sprache zu spielen vermag. Erneut gibt es wenig Schwarz und Weiß in seinem Buch, vieles steht zwischen den Zeilen, vieles bleibt ganz unklar. „Manitoba“ ist kein einfacher Roman und hat einige Längen, und doch bleibt die Geschichte hängen im Kopf, weil sie so nah dran ist an alltäglichem Empfinden und so feinfühlig in der Beschreibung des Helden - oder eben Nicht-Helden.

(S E R V I C E - Linus Reichlin: Manitoba, Galiani Verlag Berlin, 288 Seiten, 20,60 Euro, ISBN 978-3-86971-131-7)