Virtual Reality: Pendeln zwischen den Welten
Willkommen in der Virtual Reality, kurz VR: Es ist das erste Weihnachten, an dem zahlreiche Hersteller von VR-Brillen neugierige Spieler in die computergenerierten Realitäten locken. Das birgt Gefahren und erfordert Strategien, junge Menschen vor einer Sucht zu bewahren. Doch das Eintauchen in die virtuellen Welten hat genauso Potenzial, etwa beim Training für Einsatzkräfte oder in der Medizin.
Potenzial: Lautlos gleitet das Kanu durch die Schlucht. Zwei Finger allein steuern die Geschwindigkeit, einmal schneller, dann ganz langsam. Ein Ast ragt aus dem Wasser. Das geht sich aus. Man muss sich nicht ducken. Gelbe Schmetterlinge flattern vorbei, streifen fast den Kopf. Eine sternenklare Nacht kündigt sich an, es wird immer dunkler. Der Grand Canyon zieht sich endlos hin. Dann nimmt man die Brille ab. Vor einem, ganz nah, ist die weiße Wand in einem Gruppenraum an der Innsbrucker Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie. Die Reise ist zu Ende. Die Rückkehr aus der virtuellen Wirklichkeit in die greifbare Realität ist abrupt.
Bewegung im Kopf
Seit einem halben Jahr leiten die klinischen Psychologen Gerhard Rumpold und David Riedl eine Studie, die das Potenzial von Virtual Reality für die Psychosomatik auslotet. Parallel zu den Tests schafft Rumpold, der in Rum mit Bernhard Holzner die Firma Evaluation Software Development leitet, neue virtuelle Umgebungen. Ziel ist, dass sich die Patienten in der wirklichkeitsgetreuen Welt frei bewegen können, während sie in der analogen Wirklichkeit still sitzen oder liegen – und zwar ohne Nebenwirkungen.
In der Praxis könnte das so ausschauen: Der Patient setzt sich in der Radiologie die VR-Brille auf und taucht in eine andere Welt ab. Er macht einen Waldspaziergang oder stapft einen Südseestrand entlang, hält seine Füße ins Wasser und zeichnet mit einem Stock etwas in den Sand. Gleichzeitig bekommt er seine Tumorbestrahlung. Auf diese Weise könnten Patienten beklemmende medizinische Anwendungen leichter bewältigen und würden bei langen Krankenhausaufenthalten nicht so sehr verzagen. „Die Einbettung von Virtual Reality in medizinische Anwendungen ist eine Möglichkeit. Die andere ist, in der Psychosomatik Entspannungstechniken mittels Virtual Reality zu erlernen. Bisher versucht man in der ersten Therapiephase verbal möglichst viele Sinne anzusprechen.“ Das geschehe, um zu erreichen, dass sich der Klient in eine andere Welt hineindenken kann und positive Emotionen ausgelöst werden. Durch Virtual Reality könne aber ein „viel höheres Level des Hineindenkens erreicht werden“, sagt Rumpold.
Ängste bezwingen
Doch auch in anderen Bereichen der Psychologie könnte VR künftig fix eingeplant werden. In der Traumabewältigung etwa. „Das US-Militär hat ganz massiv in die Entwicklung von VR investiert, für Fallschirm-Trainings, aber auch zur Therapie von Kriegsrückkehrern“, schildert Riedl. Das Abgewöhnen von Redeangst ist ebenfalls ein Fall für die virtuelle Bühne. „Das Publikum wird dann von uns Psychologen gesteuert. Es hört aufmerksam zu oder schwätzt“, sagt Rumpold, wie es funktioniert. Und wer von den Schlangenphobikern ist schon einmal einer Grünen Mamba in der freien Wildbahn begegnet? „Solche irrationalen Ängste kann man konfrontationstherapeutisch, also durch Gewöhnung, gut mit Virtual Reality in den Griff bekommen“, schildert Riedl.
Zunächst gilt es für die Innsbrucker aber ein grundsätzliches Problem zu lösen: „Etwa 30 Prozent der Studienteilnehmer gaben mittleren bis schweren Schwindel an, wenn sie sich mit dem Controller der Xbox-Spielkonsole in der virtuellen Wirklichkeit selber frei bewegen konnten. Im Szenario mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit, dem Grand Canyon, waren es nur noch etwa drei Prozent“, erklärt Riedl. Dies seien gute Ergebnisse, die zeigen, dass VR gut an der Klinik eingesetzt werden könne, wenn bestimmte Bedingungen beachtet werden. In der nächsten Studienphase soll ergründet werden, ob einem mit der Zeit nicht mehr schwindlig wird und wie lange dieser Effekt anhält.
Wenn die Finanzierung klappt, werden 2017 die ersten Patienten an der Innsbrucker Klinik in den Genuss der Auszeit kommen. Das mit dem Geld ist so eine Sache: Durch VR könnten manche Therapien zwar effektiver und ressourcenschonender eingesetzt werden.
„Aber noch sind VR-Brillen und Computer für den Haushalt teuer. Man braucht eine gute Grafikkarte, damit die Bilder nicht ruckeln. Das andere Problem ist, dass die Industrie nicht so an klinischen Anwendungen interessiert ist. Den großen Rubel macht sie nämlich mit VR-Pornos und Spielen“, bedauert Riedl. (Theresa Mair)
Suchtgefahr: Die Vorstellung ist verlockend, in ein Paralleluniversum einzutauchen, in dem man ein Super-Held ist, ein Macher, ein Macker, erfolgreicher und womöglich schöner als im realen Leben. Eine Welt, in der man seine Gegner mit links besiegt. Neue Technologien ermöglichen es, durch eine Brille mit dem ganzen Körper in eine virtuelle Ersatzwelt zu treten und machen das Szenario für Computerspiele-Fans noch verführerischer und realer.
Für einen großen Teil der „Gamer“ stellt es kein Problem dar, nach dem Spiel wieder in die reale Welt zurückzufinden, ein gewisser Prozentsatz der Online-Nutzer tut sich allerdings etwas schwerer. Sie verlieren sich im Spiel, verbringen oft Stunden damit, imaginäre Gegner zu jagen oder ganze Städte aufzubauen – während die reale Welt an ihnen vorbeizieht.
„An der Spielzeit alleine kann man keine Sucht festmachen“, weiß Elke Prochazka, Psychologin der Telefonhilfe „Rat auf Draht“. Wenn die Gedanken aber die ganze Zeit um das Spiel kreisen, der Schlaf darunter leidet, sich körperliche Unruhe bemerkbar macht, man keine Zeit mehr mit Freunden verbringt und es nicht schafft, auszusteigen, dann steckt mehr dahinter als eine reine Spielleidenschaft. Treffen kann eine Sucht jeden, „doch die Gruppe der unter 20-Jährigen ist am meisten gefährdet“, weiß Prochazka. Vor allem trifft es Personen, die in der Offline-Welt kaum Kontakte pflegen und deren Freundschaften und Familienbande schon vor Beginn des exzessiven Spielens problematisch waren.
Verloren in der virtuellen Welt
„Es gibt einen Weg aus der Sucht. Allerdings dauert das oft Monate. Betroffene müssen ein komplett neues Leben aufbauen“, weiß Armin Dag, Psychologe und Psychotherapeut der Tiroler Suchtberatungsstelle BIN. Aber: „Du kannst nicht von heute auf morgen sagen: So, jetzt interessierst du dich für das und jenes und ersetzst das Computerspiel durch Sport oder ein Brettspiel“, sagt Dag. Das gehe allmählich, erfordere Geduld und in vielen Fällen eine Therapie. Und es erfordere Verständnis, aber auch Konsequenzen von den Eltern.
„Suchtmittel kann man kontrollieren oder weglassen. Ist das Suchtmittel die Online-Welt, ist das Weglassen heutzutage kaum möglich“, betont Prochazka. Es geht also um das richtige Kontrollverhalten. Außerdem gilt es herauszufinden, was hinter der Sucht steckt. Ziel sei es auch, das wiederzubeleben, was den Betroffenen früher Spaß gemacht hat. Doch was macht heute Spaß? Ist die reale Welt wirklich so fad? Und wenn ja, wie kann man sie wieder reizvoll machen? „Die digitale Welt ist die reale Welt der Jugendlichen“, antwortet die Expertin. Sie sind so aufgewachsen, die neuen Medien gehören für sie zum Leben. Nicht alle Teenager sind gleich süchtig. Viele haben Spaß am Spiel, aber auch am Treffen mit Freunden. Wenn ein Kind hin und wieder Konsole spielt, sei das kein Problem. Vorausgesetzt, es ist sonst kein Stubenhocker.
Eltern müssen ihre Kinder auch nicht dauerbespaßen oder mit ihnen um die echte Welt reisen, um sie aus ihrer virtuellen Welt herauszuholen. Oft reicht es, gemeinsame Aktivitäten, z. B. Sport, wiederzubeleben. „Auch wenn der Teenager ein Gesicht zieht und bockt, Eltern dürfen sich da nicht einschüchtern lassen“, rät Prochazka.
Was können Eltern tun?
In manchen Fällen sind es die Jugendlichen selbst, die bei „Rat auf Draht“ anrufen. Einige erleben das viele Spielen tatsächlich als quälende Sucht und als nicht mehr kontrollierbar. Andere hingegen, die hin und wieder spielen, fühlen sich einfach von den Eltern nicht verstanden.
Prochazkas Tipp: „Eltern sollten sich für das Spiel ihrer Kinder interessieren. Das kann auch spannend für sie sein. Die Kinder sind oft so toll, in dem, was sie können“, schwärmt Prochazka von den jugendlichen Computer-Künstlern. Außerdem habe die virtuelle Welt sogar ihre positiven Aspekte. Spielen verbindet und könne gerade bei introvertierten Persönlichkeiten das Sozialverhalten fördern. Kinder, die sonst vielleicht zurückhaltender sind, erhalten mitunter Anerkennung von ihren Kollegen.
„Verbote bringen nichts“, betont die Expertin. Dahinter sein sollten Eltern aber sehr wohl. Es muss auch medienfreie Zeiten, z. B. beim Essen oder während des Schlafens, geben. Prochazka weiß: Für Kinder ist es leichter, zu sagen „Meine Eltern erlauben es nicht, nachts zu spielen oder zu chatten“ als „Ich mag durchschlafen“. „Da müssen Mama und Papa einfach einmal streng und uncool sein.“ (Nicole Strozzi)
Brillen im Vergleich
Billig-VR. Mit dem Cardboard hat Google den Einstieg in die VR-Welt billig gemacht. Die Kartons gibt es ab 5 Euro und können mit Smartphones kombiniert werden. Die 3D-Optik kommt von Linsen in Kartons, die Technik von Apps am Smartphone. Technisch ähnlich, aber ausgereifter ist die Gear (ca. 70 Euro) von Samsung; für iPhones und die Handys anderer Hersteller gibt es u. a. die Zeiss VR (ca. 120 Euro).
Playstation VR. Die teureren Brillen brauchen kein Smartphone, die Technik ist wie bei der Playstation VR in der Brille verbaut. Sie funktioniert in Verbindung mit der Spielkonsole Playstation 4 und ist eindeutig fürs Spielen ausgerichtet. Preis: 399 Euro. Erhältlich seit Oktober 2016.
HTC VIVE. Für viele ist die HTC-Brille derzeit technisch am ausgereiftesten, aber mit ca. 899 Euro auch das teuerste Produkt. Durch ein eigenes Ortungssystem können sich Nutzer im ganzen Raum bewegen. Die VR-Brille gibt es seit April, sie wird von Windows-Systemen unterstützt.
Oculus Rift. Die neue Version des Pioniers unter den VR-Brillen ist seit September in Europa am Markt. Die Firma gehört mittlerweile zu Facebook, doch die Oculus Rift ist nach wie vor nur fürs Spielen gedacht. Mit knapp 400 Gramm wiegt sie etwas weniger als die HTC-Brille, ebenfalls für Windows. Kosten: ca. 699 Euro.
Der Stand der Technik
Unendliche Weiten.
Ist die Technik schon reif für den Massenmarkt? Hannes Kaufmann leitet an der TU Wien die Forschungsgruppe „Virtual and Augmented Reality“, die u. a. schon mit der Feuerwehrschule Telfs zusammengearbeitet hat. Mit ihrem „Immersive Deck“ (Bild rechts) hat sie einen Raum konzipiert, in dem sich mehrere VR-Nutzer gleichzeitig bewegen können und den Raum größer wahrnehmen, als er ist. Kaufmann sieht im „Gaming, im Marketing, in der Medizin und im Tourismus Anwendungsgebiete, aber die Technologie ist z. B. noch nicht für stundenlanges Spielen ausgerichtet“. Er empfhielt jedem, der VR-Brillen privat nutzen will, „es zuerst einmal auszuprobieren, weil jeder Körper anders darauf reagiert“. Angestrengte Augen, Kopfweh bis zur Übelkeit treten auf, die „Cyber-Sickness“ – bei billigeren Brillen, die mit dem Smartphone kombiniert werden, eher, bei teureren Produkten weniger.
Tirols Feuerwehr im VR-Einsatz
Virtuelles Training.
Die Forschungsgruppe von Hannes Kaufmann hat neben ihrem virtuellen Großraum auch ein transportables VR-Gerät entwickelt. Damit wurde bereits in der Landesfeuerwehrschule in Telfs ein Trainingsprojekt (Bild ganz rechts) durchgeführt. „Es gibt Situationen, die man als Feuerwehr in der Realität gar nicht so trainieren kann, zum Beispiel einen Flugzeugabsturz auf einer Autobahn oder einen Chemieunfall“, sagt Kaufmann. Große Notfallübungen lassen sich in den virtuellen Raum verlegen. Der Virtual-Reality-Experte denkt aber auch an Feuerwehren im ländlichen Bereich, „die es nicht ständig mit Ernstfällen zu tun haben“. Mit dem VR-Training könne zum Beispiel der Einsatzleiter schwierige Situationen durchspielen, in der virtuellen Welt herumgehen und seine Einsätzkräfte dirigieren, so Kaufmann. (Matthias Christler)