Jahrestag des „Charlie Hebdo“-Attentats: Wolinski-Witwe klagt an

Paris (APA) - Am 7. Jänner jährt sich das Attentat auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ zum zweiten Mal. Unter den zwölf Ermordeten befand ...

Paris (APA) - Am 7. Jänner jährt sich das Attentat auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ zum zweiten Mal. Unter den zwölf Ermordeten befand sich auch der Zeichner Georges Wolinski. Mit den Worten „Schatz, ich geh zu Charlie!“ hatte er sich in der Früh von seiner Gattin Maryse verabschiedet. So nennt Wolinskis Witwe auch ihr Buch, in dem sie jenen Tag rekonstruiert. Zum Jahrestag erscheint es nun auf Deutsch.

„Die Ereignisse von damals sind weiterhin außerordentlich präsent in meinem Leben“, sagt Maryse Wolinski. Die 73-jährige Journalistin und Schriftstellerin empfängt die APA in ihrer neuen Pariser Wohnung in der Nähe des Invalidendoms. Damit meint sie weniger die vielen Fotos und Zeichnungen ihres Mannes und auch nicht seine vielen auf Post-its hinterlassenen Liebesbotschaften, um die sie ihre Freundinnen stets beneidet hatten und von denen einige das Cover der deutschen Ausgabe zieren. Vielmehr meint sie damit eine Krankheit, die ihr seit einigen Wochen zu schaffen macht: „Ich leide an Pleuritis (Rippenfellentzündung, Anm.). Meine Lunge hat sich mit Wasser gefüllt. Für mich sind es Tränen. Es ist eine sehr romantisch wirkende Krankheit.“

Madame Wolinski hatte ihren Mann in der Redaktion des „Journal du dimanche“ kennengelernt. Wie sehr die junge Frau, die der sanfte Macho und notorische Erotomane Wolinski gerne als „mein kleines blondes Mädchen“ vorstellte, als Muse und Lebenspartnerin auch sein Zeichnen beeinflusste, erzählt eine Anekdote, die man in „Schatz, ich geh zu Charlie!“ nachlesen kann. Als sie Francois Mitterand vorgestellt wurde, meinte der spätere Präsident lächelnd: „Ich kenne Sie schon, ich sehe Sie jede Woche in den Zeichnungen von Wolinski.“ Auch in dem neuen Band „Le bonheur est un metier“, in dem Georges Wolinskis Leben anhand seiner eigenen Texte und Zeichnungen auf ergreifende Weise nacherzählt wird, springt sie als sexy Blondine lebensfroh und verlockend über viele Seiten. 47 Jahre waren die beiden miteinander verheiratet, als am 7. Jänner 2015 eine Redaktionskonferenz als Blutbad endete.

„Es ist furchtbar, nach so vielen gemeinsamen Jahren plötzlich alleine zu sein. Man muss eine Möglichkeit finden, mit seiner Wut umzugehen.“ Diese Wut richtet sich aber nicht gegen die Terroristen, sondern gegen die französische Regierung und gegen „Charlie Hebdo“. Während der Journalist Antoine Leiris, der bei dem Anschlag auf die Bataclan-Konzerthalle am 13. November 2015 seine Frau verlor, die positive Botschaft seines Bewältigungsbuches bereits in den Titel packte, „Meinen Hass bekommt ihr nicht!“, schlägt Maryse Wolinski in ihrem bereits vor einem Jahr in Frankreich erschienenen Text keine versöhnlichen Töne an. Sie recherchierte, interviewte Zeugen und Behördenvertreter und trug Fakten zusammen. „Für mich war Schreiben ein Akt des Widerstandes, auch des Festhaltens, des Verstehens. Für mich war es wichtig zu verstehen, was da genau passiert war. Dabei bin ich auf ganz viele Versäumnisse gestoßen.“

Maryse Wolinski greift den damaligen Innenminister an, der auf Druck der Polizeigewerkschaft die Bewachung der „Charlie Hebdo“-Redaktion reduziert habe. Sie schildert die schlechte Ausrüstung der Polizei und Kommunikationsmängel der Behörden und kritisiert das Management der Satirezeitung, das trotz Warnungen von Sicherheitsexperten Quartier in einem kaum zu schützenden Gebäude bezogen und Versprechen gegenüber den Hinterbliebenen der Opfer nicht eingehalten habe. Und sie ist traurig darüber, wie sehr die Ereignisse vor zwei Jahren in Vergessenheit geraten sind, was nicht nur den verheerenden Anschlägen auf Bataclan und in Nizza geschuldet sei. „Es hat damals eine Solidaritätswelle gegeben, obwohl ‚Charlie Hebdo‘ nur ganz wenige Leser hatte. Aber es war ein Attentat auf ganz Frankreich. Auf die Meinungsfreiheit. Auf unsere Lebensweise. Dieser Elan hat sich aber sehr schnell verflüchtigt.“

Nach einem beeindruckenden Farbenspiel über dem Pariser Abendhimmel ist es dunkel in der Wohnung geworden. Madame Wolinski ist müde, sie atmet schwer. Die Erinnerungen und ihre Krankheit machen ihr zu schaffen. Zeit für die letzte Frage. Der Zeichner Luz, der das Attentat nur überlebte, weil er sich an dem Tag verspätet hatte, nannte sein Buch, mit dem er die Ereignisse aufzuarbeiten versuchte, „Katharsis“. Hatte auch Maryse Wolinskis Buch kathartische Wirkung auf die Autorin? „So war es beabsichtigt, absolut“, räumt sie ein. Ihre Arbeit an neuen Büchern und Theaterstücken zeugt von Versuchen, wieder Fuß zu fassen. „Wir haben alles gemeinsam gemacht. Nun muss ich alles alleine machen. Mein ganzes bisheriges Leben hat am 7. Jänner 2015 aufgehört. Ich muss ein anderes Leben an seine Stelle setzen. Das ist nicht leicht.“

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Maryse Wolinski: „Schatz, ich geh zu Charlie!“, Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig und Katrin Thomaneck, Residenz Verlag, 138 S., 19 Euro; Georges Wolinski: „Le bonheur est un métier“, Glenat, 320 S.,29,50 Euro, ISBN 9782344018170; Das rekonstruierte ehemalige Arbeitszimmer von Georges Wolinski ist im Centre International de la Caricature in Saint-Just-le-Martel zu besichtigen: http://st-just-humour.fr/)