Brexit: Britischer EU-Vertreter kritisiert Regierung scharf
Der britische Top-Diplomat Ivan Rogers schrieb, der Regierung mangle es an „ernsthafter Erfahrung“. Einen Punktesieg können durch den Rücktritt die Hardliner feiern. Doch die Brexit-Verhandlungen werden für Großbritannien nun wohl noch schwieriger.
London – Der zurückgetretene britische EU-Botschafter Ivan Rogers hat die Vorbereitungen der britischen Regierung auf die Austrittsverhandlungen mit der Europäischen Union kritisiert. Im Londoner Regierungsviertel sei „ernsthafte Erfahrung bei multilateralen Verhandlungen Mangelware“, schrieb Rogers in einem Abschiedsschreiben an Mitarbeiter im UKRep-Büro, das London bei Verhandlungen mit der EU vertritt.
Seine Kollegen forderte Rogers auf, sich nicht zu verbiegen und ihre Meinung zu vertreten, selbst wenn sie nicht willkommen sei. „Ich hoffe, ihr werdet damit fortfahren, gegen schlecht begründete Argumente und unklare Gedanken zu kämpfen und dass ihr nie Angst haben werdet, den Machthabenden die Wahrheit zu sagen.“
Rogers schätzte Dauer von Gesprächen auf zehn Jahre
Rogers war für die Äußerung kritisiert worden, die Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien, das wegen des Brexit erforderlich wird, könnten sich bis zu zehn Jahre hinziehen. Britische Medien berichteten zuletzt über Differenzen zwischen Rogers und Kabinettsmitgliedern in der Brexit-Frage. Am Dienstag verkündete Rogers schließlich seinen Rücktritt.
Die Briten hatten im Juni mit 52 Prozent der Stimmen für einen Austritt aus der EU gestimmt. Der auf zwei Jahre angelegte Austrittsprozess Großbritanniens aus der EU kann erst beginnen, wenn London das Ausscheiden nach Artikel 50 des EU-Vertrags beantragt hat. Premierministerin Theresa May will die Austrittserklärung bis Ende März abgeben. (APA/AFP)
Pressestimmen zum Rücktritt
Zeitungen schrieben am Mittwoch zum Rücktritt des britischen EU-Botschafters Ivan Rogers:
„De Telegraaf“ (Amsterdam):
„Den ohnehin schon chaotischen Versuchen Großbritanniens, der EU den Rücken zu kehren, ist mit dem Abgang des britischen Top-Diplomaten in Brüssel ein weiterer Schlag versetzt worden. Sir Ivan Rogers gilt als der britische Diplomat mit der besten Kenntnis der komplizierten Brüsseler Verhältnisse. Sein Rücktritt kurz vor dem Beginn der Brexit-Verhandlungen durch die geplante Anrufung des berüchtigten Artikels 50 im März macht es für London noch schwieriger. Doch Premierministerin Theresa May scheint ein „Hardliner“ lieber zu sein als ein erfahrener Diplomat. Bezeichnend für die politische Spaltung Großbritanniens nach dem Brexit-Votum ist, dass der Rücktritt von Sir Ivan erneut für eine Kontroverse sorgte. Befürworter des Austritts aus der EU jubeln, weil er ihnen als zu pro-europäisch gilt. Die anderen hingegen trauern.“
„Financial Times“ (London):
„Mit dem Rücktritt von Sir Ivan Rogers verliert Großbritannien einen seiner erfahrensten Vertreter in Brüssel. Der Zeitpunkt ist für die Regierung von Theresa May unglücklich. Gerade jetzt, wo sich die unschönen Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und seinen bisherigen EU-Partnern vor dem Beginn der Verhandlungen über die Brexit-Bedingungen ihrem Höhepunkt nähern. Bei den Ideologen in Großbritanniens regierender Konservativer Partei mag der Rat bewährter Staatsdiener, die sie als „sogenannte Experten“ verspotten, nicht in Mode sein. Doch Sir Ivan ist ein ranghoher Beamter, auf den die britische Regierung gerade jetzt nur schwer verzichten kann.“