40 Jahre „Charta 77“: Stachel im Fleisch der CSSR
Prag (APA/dpa) - Im Jänner 1977 liefern sich tschechoslowakische Regimegegner eine filmreife Verfolgungsjagd mit dem kommunistischen Geheimd...
Prag (APA/dpa) - Im Jänner 1977 liefern sich tschechoslowakische Regimegegner eine filmreife Verfolgungsjagd mit dem kommunistischen Geheimdienst. Der Schauspieler Pavel Landovsky drückt am Steuer seines schwedischen Importautos aufs Gaspedal. Als es ihm gelingt, die Verfolger in den engen Prager Straßen kurzzeitig abzuschütteln, springt der Schriftsteller Vaclav Havel aus dem Wagen und wirft 40 Briefe mit Kopien der Erklärung „Charta 77“ in einen Briefkasten. Gerade noch rechtzeitig, bevor Sicherheitsbeamte das Auto umkreisen, in dem auch der Schriftsteller Ludvik Vaculik sitzt.
Zum Glück hatten Unterstützer der Oppositionellen zu diesem Zeitpunkt längst ein Exemplar der „Charta 77“ geheim außer Landes geschmuggelt. Am 7. Jänner vor 40 Jahren, einen Tag nach der Verfolgungsjagd, erschien die Erklärung auf den Seiten führender westeuropäischer Zeitungen, wie der französischen „Le Monde“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der britischen „Times“.
Darin forderten 242 Künstler und Intellektuelle die kommunistischen Machthaber in Prag auf, die Bürger- und Menschenrechte einzuhalten. Sie appellierten aber auch an jeden Einzelnen: „Jeder trägt seinen Teil der Verantwortung für die allgemeinen Verhältnisse.“ In einem geschickten Schachzug beriefen sich die Unterzeichner auf die Schlussakte der Konferenz von Helsinki über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Tschechoslowakei hatte das Dokument ratifiziert, konnte es also schlecht ablehnen.
Die Regierung schäumte vor Wut. „Die besten Gehirne der Opposition haben die Erklärung auf so raffinierte Weise formuliert, dass 90 Prozent unserer Leute nicht einmal begreifen würden, worin ihre Gefährlichkeit liegt“, erklärte der damalige Innenminister Jaromir Obzina. Sein Schluss: Die weitere Verbreitung der „Charta 77“ musste unter allen Umständen verhindert werden.
Es folgte eine beispiellose Hetzkampagne: Verhaftungen, harte Verhöre, Hausdurchsuchungen und Propaganda. Das Regime ließ 2.000 prominente Künstler eine Anticharta unterzeichnen. Das Parteiorgan „Rude Pravo“ (Rotes Recht) verurteilte die Dissidenten als „Schiffbrüchige“ und als „Diener und Agenten des Imperialismus, Ausverkäufer und Zionisten“. Einer der ersten Sprecher der „Charta 77“, der Philosoph Jan Patocka, brach nach einer langen Vernehmung zusammen und starb an einem Schlaganfall.
Was wurde aus den anderen Unterzeichnern der Petition? Der Dramatiker und Charta-Mitverfasser Pavel Kohout wurde 1979 ausgebürgert und unterstützte die Dissidentenszene fortan von Wien aus. Der Schauspieler Landovsky (1936-2014) erhielt Auftrittsverbot und emigrierte nach Österreich. Havel (1936-2011) verbrachte fast fünf Jahre in Haft, wurde zur Symbolfigur der demokratischen Wende von 1989 und erster frei gewählter Präsident. Jiri Dienstbier (1936-2011) wurde nach 1989 Außenminister.
Letztlich erreichte die „Charta 77“ ihr Ziel, die Bevölkerung in den bleiernen Jahren nach dem blutigen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen vom August 1968 aufzurütteln. „Viele Menschen begannen langsam, sich von diesem historischen Schock zu erholen“, erinnerte sich Havel später. „Sie erkannten, dass man nicht immer nur darauf warten kann, dass andere die Verhältnisse verbessern.“ Für Oppositionsbewegungen in Polen, Ungarn und der DDR wurde die „Charta 77“ zum Vorbild.
Auch wenn die Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1992 offiziell aufgelöst wurde, halten manche ihrer damaligen Unterzeichner der Gesellschaft bis heute den Spiegel vor. In einer vielbeachteten Rede warnte der Ex-Dissident Petr Pithart jüngst vor einer erneuten Hinwendung Tschechiens zu Russland und China. Der 76-Jährige kritisierte: „Wir entfernen uns, eingestanden oder uneingestanden, in unauffälligen Rückwärtsschritten, geradezu im Krebsgang, von der Europäischen Union, von Europa und dem Westen.“