Türken zwischen Hoffen und Bangen bei Stimmabgabe in Berlin
Berlin (APA/Reuters) - Vor dem türkischen Generalkonsulat in der Berliner Heerstraße ist viel los: Polizisten und Sicherheitsleute in orange...
Berlin (APA/Reuters) - Vor dem türkischen Generalkonsulat in der Berliner Heerstraße ist viel los: Polizisten und Sicherheitsleute in orangen Warnwesten sichern Eingang und Ausgang des Gebäudes, kontrollieren wer rein- und wieder rausgeht. Sie schauen sich misstrauisch um, halten Wähler auf, die falsche Eingänge benutzen wollen und beäugen skeptisch die zahlreichen Journalisten vor dem Konsulat.
Die Stimmung der Wähler scheint dagegen größtenteils gut. Viele kommen in Gruppen, bleiben bei dem strahlenden Sonnenschein nach ihrer Stimmabgabe noch vor dem Konsulat stehen, unterhalten sich oder geben Reportern und Kamerateams bereitwillig Auskunft.
Ab Montag können 1,4 Millionen in Deutschland lebende Türken zwei Wochen lang für oder gegen die von Präsident Recep Tayyip Erdogan geplante Verfassungsänderung abstimmen. Diese sieht einen erheblichen Machtzuwachs des Präsidenten vor. Das Generalkonsulat in Berlin ist eines von 13 provisorischen „Wahllokalen“ in Deutschland, in denen bis zum 9. April die Stimmabgabe möglich ist. In der Türkei selbst findet das Referendum am 16. April statt.
Der 26-jährige Auszubildende Yassir Erdem kommt aus dem Konsulatsgebäude und möchte eigentlich nicht verraten, wie er gewählt hat. Allerdings sagt er: „Das alte System ist für die Türkei nicht gut. Es muss sich etwas ändern.“
Süleyman Hoyur und Emine Durdu haben zusammen ihre Stimme abgegeben. Der Kioskbesitzer aus Berlin hat seinen kleinen Sohn dabei, die drei sind gut gelaunt. Die Erwachsenen sprechen offen über ihre Hoffnungen auf eine Verfassungsänderung nach der Wahl. „Wenn das erreicht wird, was wir wollen, dann wird die Geschichte neu geschrieben“, sagt Durdu. Sie selbst trägt kein Kopftuch, sagt aber, dass ihr religiöse Freiheiten wichtig sind. Erdogan garantiere diese. „Ich mache es jetzt mal ganz einfach: Ich will nicht in einen Schleier verhüllt werden, aber ebenso wollen manche türkische Mädchen nicht ohne Kopftuch rumlaufen. Das wird helfen. Niemand wird zu etwas gezwungen.“
Nach einer Stunde haben sich vor dem Konsulatsgebäude Schlangen gebildet, immer mehr Menschen möchten ihre Stimme abgeben. In Berlin leben laut Schätzungen des Statistischen Bundesamtes etwa 117.000 türkische Wahlberechtigte.
Eine handvoll Menschen vor dem Konsulat hat Plakate dabei, auf denen für die prokurdische Partei HDP geworben wird. Insgesamt bleibt es aber ruhig, die Situation eskaliert nicht.
Tarik Demir ist in Eile, er möchte nach seiner Stimmabgabe am liebsten schnell weiter. Der Endzwanziger ist in Deutschland geboren und hat sich hier im Bereich Trockenbau selbstständig gemacht. Er sagt, dass er auf ein „Ja“ für die Verfassungsänderung Erdogans hoffe. Erdogan habe schon viel im Land verändert: „Die AKP regiert seit 15 Jahren. Sie hat Sozialleistungen in der Türkei eingeführt, sie hat viele Häuser und Straßen gebaut. Alles Mögliche haben sie in 15 Jahren geschafft, was die CHP in 60 bis 70 Jahren nicht geschafft hat.“ Außerdem habe er Angst vor den Anschlägen der letzten Zeit in der Türkei und hoffe darauf, dass ein gestärkter Präsident diese besser bewältigt: „Ich vertraue Erdogan.“
Auch Gegner der Verfassungsreform sprechen vor dem Konsulatsgebäude über ihre Wahlentscheidung. Sie habe mit Nein gestimmt, sagt die Rentnerin Demiral Sadet. „Erdogan regiert sowieso schon alles, wieso soll er noch mehr Macht bekommen?“, fragt die ehemalige Bankangestellte. Sie befürchtet Repressionen in der Türkei. „Ich habe viele türkische Freundinnen, die einen deutschen Ehemann haben. Die warten jetzt erstmal ab, wie das Referendum ausgeht und entscheiden sich dann, ob sie überhaupt nochmal in die Türkei reisen.“
Auch Yasemin Güntürk fürchtet sich vor einem Machtzuwachs des Präsidenten. „Erdogan macht die Türkei faschistisch“, sagt die ehemalige Köchin, die arbeitslos ist, seit sie in Deutschland wohnt. Sie spricht mit leiser Stimme und schaut sich nervös um. Güntürk bezeichnet sich als „Kemalistin“, also Anhängerin des Gründers der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. „Ich befürchte, dass Erdogan alles zerstört, was Atatürk aufgebaut hat.“ Dabei macht sie mit ihren Händen Gesten, als ob sie etwas kurz- und kleinschlagen würde.