Krieg in Syrien

WHO vermutet Nervengiftangriff, Berlin widerspricht Moskau

Opfer des Angriffes werden begraben.
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Dem Kreml zufolge soll die syrische Armee nicht selbst Giftgas eingesetzt, sondern ein Waffenlager getroffen haben. Die Zahl der Toten steigt indes weiter.

Brüssel/New York/Damaskus – Angesichts des mutmaßlichen Giftgasangriffs in Syrien hat UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Verfolgung von „Kriegsverbrechen“ in dem Konflikt gefordert. „Die schrecklichen Ereignisse von gestern zeigen unglücklicherweise, dass es weiter Kriegsverbrechen in Syrien gibt“, sagte Guterres am Mittwoch bei der internationalen Syrien-Konferenz in Brüssel.

Er zeigte sich zuversichtlich, dass der UN-Sicherheitsrat bei seinem Sondertreffen zu dem Giftgasvorfall „seiner Verantwortung gerecht wird“. Bei dem mutmaßlichen Giftgasangriff in der nordwestlichen Provinz Idlib waren Aktivisten zufolge am Dienstag mindestens 72 Menschen getötet worden.

Darstellung Russlands zurückgewiesen

Der Syrien-Verbündete Russland bestreitet, dass die Regierung von Machthaber Bashar al-Assad selbst Giftgas eingesetzt hat. Die syrische Luftwaffe soll nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums vielmehr ein von Rebellen genutztes Lager mit Giftstoffen getroffen haben. Ein Rebellenkommandant wies dies als Lüge zurück. . „Alle haben gesehen, wie das Flugzeug Gas einsetzte“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. Weder gebe es in der Umgebung Militärstellungen noch Orte für den Bau von Chemiewaffen.

Auch die deutsche Bundesregierung geht derzeit von einem Giftgas-Einsatz aus. Es erscheine „durchaus schlüssig, dass es Angriffe aus der Luft gegeben hat“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin.

Keine Anhaltspunkte sieht die deutsche Bundesregierung dagegen für die russische Darstellung, dass es sich um einen syrischen Luftangriff auf ein Chemiewaffenlager der Rebellen gehandelt habe: „Wir haben keine Hinweise darauf, die diese These belegen würden.“ Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer sprach von einem Kriegsverbrechen. Für derartige Einsätze sei in der Vergangenheit das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad verantwortlich gewesen.

„Auch wenn in diesem Fall die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Verantwortlichkeit des Assad-Regimes für Chemiewaffen-Einsätze in der Vergangenheit bereits nachgewiesen wurde“, sagte Demmer. Russland wird den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ungeachtet westlicher Vorwürfe eines Giftgasangriffs weiter unterstützen. Das sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch in Moskau.

WHO bestätigt Einsatz von Nervenkampfstoffen

Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass bei dem Vorfall Nervenkampfstoff freigesetzt wurde. Wie die WHO am Mittwoch in Genf mitteilte, zeigten die Opfer typische Symptome, die bei Kontakt mit Chemiewaffen auftreten.

Bei einigen Opfern deuten die Symptome demnach auf den Einsatz „phosphororganischer Chemikalien“ hin, zu denen auch die sogenannten Nervenkampfstoffe gehören. Für den Einsatz von Chemiewaffen spricht nach Angaben der WHO auch, dass die Opfer keine äußerlichen Verletzungen aufwiesen. Stattdessen seien bei den Betroffenen schnell ähnliche Symptome aufgetreten. Die häufigste Todesursache sei akute Atemnot gewesen.

NATO will Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen

Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte den Angriff. Es sei bereits das dritte Mal im vergangenen Monat, dass in Syrien über die Nutzung von Giftgas berichtet werde, erklärte Stoltenberg am Mittwoch in Brüssel. „Alle, die dafür verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Papst Franziskus äußerte sich bei der Generalaudienz am Mittwoch auf dem Petersplatz über das Giftgasmassaker. „Mit Horror verfolgen wir die neuesten Ereignisse in Syrien“, sagte der Papst. „Ich drücke meine entschiedene Ablehnung dieses inakzeptablen Massakers aus, das gestern stattfand in der Provinz Idlib und bei dem Dutzende Menschen getötet wurden. Sie waren unbewaffnet und unter ihnen waren viele Kinder. Ich bete für die Opfer und ihre Familien, und ich appelliere an das Gewissen derjenigen, die politische Verantwortung haben, lokal und international, dass sie diese Tragödie beenden und Hilfe für die Bevölkerung ermöglichen, die zu lange schon durch den Krieg erschöpft ist“, so der Papst.

Sicherheitsrat tagt, Russland könnte Veto einlegen

Der UN-Sicherheitsrat befasst sich am Mittwoch mit dem Giftgasvorfall. Die ständigen Sicherheitsratsmitglieder USA, Großbritannien und Frankreich wollen einen Resolutionsentwurf zur Abstimmung vorlegen, in dem der Angriff in der Stadt Khan Sheikhoun (Chan Scheichun) verurteilt und eine baldige Untersuchung verlangt wird.

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) forderte Russland indes auf, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Aufklärung des Giftgasvorfalls in Syrien zu unterstützen. „Wir appellieren auch an Russland, dieser Sicherheitsresolution zuzustimmen, den Fall zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte Gabriel am Mittwoch bei der internationalen Syrien-Konferenz in Brüssel. Er kündigte gleichzeitig an, Deutschland wolle für dieses und das kommende Jahr rund 1,3 Milliarden Euro zur Versorgung von Syrien-Flüchtlingen bereitstellen.

Johnson: Angriff bestätigt „barbarisches Regime“ Assads

Der britische Außenminister Boris Johnson sagte, „alle Beweise“, die er gesehen habe, deuteten darauf hin, „dass dies das Assad-Regime war“ und dieses „illegale Waffen gegen ihr eigenes Volk eingesetzt“ habe. Der Vorfall bestätige, dass dieses „barbarische Regime“ es unmöglich mache, sich eine Zukunft Syriens mit Assad vorzustellen.

Gabriel sagte, die Frage, wer für den Giftgasvorall verantwortlich sei, müsse durch eine durch den UN-Sicherheitsrat eingeleitete Untersuchung geklärt werden. Deutschland sei der Überzeugung, dass „Kriegsverbrechen geahndet werden müssen“, sagte er. „Wir müssen alles tun, die Verantwortlichen vor ein internationales Gericht zu bringen, weil dies eines der schlimmsten Kriegsverbrechen ist.“

Syrien-Konferenz beginnt mit Schweigeminute

Die internationale Syrien-Konferenz begann indes am Mittwoch mit einer Schweigeminute für die Opfer des Giftgasangriffs. Die Vertreter von 70 Staaten und internationalen Organisationen gedachten zum Auftakt des Treffens in Brüssel der Menschen, die am Dienstag in der nordwestlichen Provinz Idlib gestorben sind, sowie der insgesamt mehr als 300.000 Toten in dem seit sechs Jahren anhaltenden Konflikt.

Seit Beginn des Konflikts im Jahr 2011 habe es „hunderte, tausende Tage gegeben, die traurig, dramatisch, schrecklich waren“, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Die Konferenz müsse den Syrern zeigen, „dass wir uns um sie sorgen und wir bereit sind, die noch Lebenden zu unterstützen und den Verlust des Lebens derjenigen zu verhindern, die in Syrien und in den Nachbarländern in Gefahr sind“.

Die Brüsseler Konferenz soll auch die Versorgung von Millionen Syrien-Flüchtlingen sicherstellen. Sie folgt auf die Londoner Geberkonferenz aus dem vergangenen Jahr, die über mehrere Jahre rund zehn Milliarden Euro für die Syrien-Hilfe zugesagt hatte. (TT.com/APA/AFP)

Pressestimmen zum Giftgasangriff in Syrien

„Guardian“ (London):

Mehr als 190 Staaten, darunter Syrien, haben die Konvention zum Verbot von Chemiewaffen unterzeichnet. Inzwischen warnen Experten, dass deren Einsatz wieder als normal betrachtet werden könnte. Die internationale Gemeinschaft, die sich an die Verwendung von Chlorin als Waffe scheinbar bereits gewöhnt hatte, ist über den Angriff am Dienstag wegen der hohen Zahl von Toten sowie wegen des Verdachts auf den Einsatz von Sarin entsetzt.

Wenn man die Täter schon nicht stoppen konnte, so müssen nun wenigstens alle Anstrengungen unternommen werden, um sie irgendwann vor Gericht stellen zu können. Sollte sich die Straflosigkeit als dauerhaft erwiesen, könnte eine solche Tragödie für das syrische Volk auch katastrophale Folgen für viele andere haben.“

„de Volkskrant“ (Amsterdam):

„Russland leugnet, ebenso wie Syrien, jegliche Beteiligung. Dennoch ist Moskau, obwohl es eine große Rolle bei der Entsorgung syrischer Chemiewaffen spielte, als militärischer Bündnispartner weitgehend mitschuldig an den Verbrechen der syrischen Armee.

Der heutige (und zur Zeit einzige) ‚Plan‘ für Syrien besteht im Wegbombardieren der Opposition von (Syriens Präsident Bashar al-) Assad. Und das mit überproportionaler Gewalt unter dem Deckmantel eines schlappen ‚Friedensprozesses‘.

„El Pais“ (Madrid):

„Der brutale Angriff mit Giftgas, der gestern auf die Bevölkerung im syrischen Khan Sheikhoun verübt wurde - einem Gebiet, das von Rebellen kontrolliert wird, die gegen die Diktatur von Bashar al-Assad sind - ist ein neuer Beweis dafür, dass in diesem Bürgerkrieg, der seit sechs Jahren andauert, alle zulässigen Grenzen bezüglich der internationalen Vereinbarungen zur Kriegsführung überschritten werden.

Der Einsatz chemischer Waffen ist ein Kriegsverbrechen an sich, aber er ist noch verwerflicher - wenn das überhaupt möglich ist - wenn sich unter den Todesopfern Zivilisten befinden, darunter mindestens ein Dutzend Kinder. (...) Die Grausamkeit, mit der der Angriff zu einer Stunde durchgeführt wurde, in der die Mehrheit der Bevölkerung völlig ahnungslos schlief, zeigt die vorsätzliche und mit nichts zu rechtfertigende Grausamkeit seiner Autoren.“

„La Croix“ (Paris):

„Das erste Ziel ist es, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Womöglich soll sie aus der Stadt Khan Sheikhoun gedrängt werden, um eine spätere Offensive vorzubereiten. Eine weitere Absicht könnte sein, (US-Präsident) Donald Trump zu testen, dessen Haltung gegenüber dem syrischen Regime bisher zögerlich ist. Wenn er den Einsatz von Giftgas nicht als ‚rote Linie‘ sieht, die zu Zwangsmaßnahmen führt, würde dies die Lage von (Syriens Präsident) Baschar al-Assad stärken. Ein solches Kalkül ist erschreckend, wenn es Menschenleben in Kauf nimmt.“