Türkei-Referendum - Erdogan: Einstiger Hoffnungsträger Europas

Ankara (APA/dpa) - Einst wurde Recep Tayyip Erdogan zum „Europäer des Jahres“ gekürt, im Westen wurde der türkische Ausnahmepolitiker als Ho...

Ankara (APA/dpa) - Einst wurde Recep Tayyip Erdogan zum „Europäer des Jahres“ gekürt, im Westen wurde der türkische Ausnahmepolitiker als Hoffnungsträger gehandelt. Davon ist heute nicht mehr viel übrig.

Im Oktober 2004 ehrte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“

Die Laudatio galt dem damaligen türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde. Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde.

Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei mehr geprägt als der heute 63-Jährige - der bisher aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf.

Der Film „Reis“ („Anführer“), der kürzlich in die Kinos kam, zeichnet das frühe Leben Erdogans nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: Das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen. Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul.

Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Den weiteren Verlauf der Karriere kennt aber eh jeder Türke: 2002 führte der Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht, 2003 übernahm er das Amt des Ministerpräsidenten. 2014 wurde er der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik - und machte sich daran, sein größtes Ziel zu verwirklichen: Ein Präsidialsystem für die Türkei, über das das Volk nun am 16. April in einem Referendum abstimmen wird.

Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan dieses Projekt mit Riesenschritten voran. Im Wahlkampf setzte er auf eine bewährte Strategie: Er erkor einen Gegner aus - in diesem Fall Europa -, der nach seiner Darstellung den Aufstieg der Erdogan-Türkei stoppen möchte. Zu verhindern ist das nach seiner Logik nur mit der richtigen Wahl beim Referendum. Einem Sieg dort ordnet er alles unter, auch das Verhältnis zu ursprünglich befreundeten Staaten. Deutsche und Niederländer überzog er in wütenden Tiraden mit Nazi-Beschimpfungen.

Dabei hat Erdogan unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft. 2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete.

Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. Erdogans Gegner befürchten, dass das Referendum nun den Weg zu einer Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei ebnen könnte.

Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan, aber auch Anhänger der Opposition werfen der EU zudem vor, die Türkei seit Jahrzehnten wie einen ungebetenen Gast vor der Tür stehen zu lassen - und einen Beitritt des mehrheitlich muslimischen Landes nie ernsthaft verfolgt zu haben. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“.

Nach dem Putschversuch stellte der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht, was automatisch das Ende jeglicher türkischer EU-Ambitionen zur Folge hätte. Außerdem brachte er für den Fall eines Sieges beim Referendum eine mögliche weitere Volksabstimmung über einen Abbruch des EU-Beitrittsprozesses ins Gespräch.

Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt. „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung vor dem Referendum tiefer denn je.

Das gilt auch für die Gräben zwischen der Türkei und der EU. Kanzler Schröder hatte 2004 gesagt, die Beitrittsverhandlungen würden zwar langwierig. Er fügte aber hinzu: „Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Weg die Türkei nach Europa führen wird.“ Aus heutiger Sicht mag vielen Europäern die spöttische Aussage David Camerons realistischer erscheinen, der 2016 als britischer Premierminister einen türkischen EU-Beitritt „ungefähr im Jahr 3000“ verortete.