„Im Herzen der Gewalt“: Autobiografisches von Newcomer Edouard Louis
Wien (APA/dpa) - Am Weihnachtsabend begegnet der Schriftsteller Edouard Louis auf der Place de la Republique in Paris dem jungen Reda. Er fü...
Wien (APA/dpa) - Am Weihnachtsabend begegnet der Schriftsteller Edouard Louis auf der Place de la Republique in Paris dem jungen Reda. Er fühlt sich von ihm angezogen und nimmt ihn mit. „Wir verbrachten die restliche Nacht miteinander, unterhielten uns, lachten. Gegen sechs Uhr morgens zog er eine Waffe und sagte, er werde mich töten.“ In „Im Herzen der Gewalt“ erzählt Louis von dem, was dann geschieht.
Dabei verbindet das 24-jährige Wunderkind der französischen Literatur die schreckliche autobiografische Erfahrung mit einer kunstvollen Erzählung von Gewalt und Rassismus, Gefühlen und Freundschaft. „En finir avec Eddy Bellegueule“ (deutscher Titel: „Das Ende von Eddy“) heißt sein Debütroman von 2014, damit stieg er im Nachbarland zum Star der Literaturszene auf. Louis erzählt darin von seiner Kindheit und von der Flucht aus ärmsten Verhältnissen in einem Dorf in der Picardie, wo er wegen seiner Homosexualität Diskriminierung und Gewalt erlebte. Seinen Eltern, Wähler der Front National, bescheinigte er in Artikeln und Interviews Rassismus und Homophobie.
Und nun „Im Herzen der Gewalt“, ein weiterer autobiografischer Roman, dessen Kern die Geschehnisse einer einzigen Nacht sind: Die Nacht, in der Louis von seiner neuen Bekanntschaft vergewaltigt und mit dem Tode bedroht wird, ehe ihm die Flucht gelingt.
In den nächsten Tagen versucht der Ich-Erzähler, als Alter Ego des Autors, wieder Kontrolle zu erlangen und Normalität herzustellen. Er beschreibt, wie schwer es ihm fällt, ins Krankenhaus zu gehen und zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Immer wieder muss er gleichgültigen oder misstrauischen Gesprächspartnern die Ereignisse schildern, über die er am liebsten nicht mehr sprechen möchte. Unterstützung findet er bei seinen Freunden, dem Autor Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) und dem Philosophen Geoffroy de Lagasnerie („Die Kunst der Revolte“). Ihre Freundschaft habe es ihm ermöglicht, „diese Geschichte hinter mir zu lassen und darüber zu schreiben“, sagt Louis in einem Interview des Verlags S. Fischer.
Einige Wochen nach der traumatischen Nacht fährt er zu seiner Schwester nach Nordfrankreich. Der Kunstgriff des Autors ist es, dass er die Geschichte auf zwei Sprachebenen schildert - einmal aus seiner eigenen Sicht, zum anderen aus der Sicht der Schwester, die das Geschehen wiederum ihrem Mann erzählt. „Mit diesem formalen Aspekt wollte ich unterstreichen, was passiert, wenn andere sich unserer Geschichte bemächtigen“, sagt der Schriftsteller. Denn in den Augen der Schwester verliert das Erlebte an Dramatik und Schrecken, trägt er selbst Mitschuld („ich bin sicher, Edouard wusste, dass der Typ log“, sagt sie). In den rückblickenden Schilderungen der Schwester wird auch Eddys Kindheit in der provinzielle Enge anschaulich, der er später zu entfliehen suchte.
Brisanz erhält das Buch dadurch, dass Reda der Sohn eines Immigranten ist, der Anfang der 60er-Jahre aus Algerien nach Frankreich gekommen war. Louis erzählt im Begleitheft davon, wie er mit dem Schreiben des Romans gezögert habe, weil er fürchtete, der Text könne wegen Redas Migrationshintergrunds als rassistisch missverstanden werden. Es ist ein schonungsloses Eingeständnis, wenn der Ich-Erzähler beschreibt, was die erlittene Gewalt zeitweise aus ihm gemacht habe: „Ich war zum Rassisten geworden.“
Glänzend übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, ist „Im Herzen der Gewalt“ ein atemlos geschriebenes, beklemmendes, sehr persönliches und zugleich politisches Buch, reflektiert und von großer Sprachkraft. Edouard Louis, der am 25. September im Wiener Bruno Kreisky Forum aus seinem Buch liest, erweist sich damit als einer der großen zeitgenössischen Autoren Frankreichs.
(S E R V I C E - Edouard Louis: „Im Herzen der Gewalt“, S. Fischer Verlage Frankfurt, 20,60 Euro)