„Seelenruhig“ - Lipus schreibt sich frei und spitzt zu, bis es wehtut

Wien (APA) - Sind die Blitze, die aus den Fingern des Schriftstellers fahren, „ein Aufleben, eine Anfeuerung der alten Euphorie, oder das En...

Wien (APA) - Sind die Blitze, die aus den Fingern des Schriftstellers fahren, „ein Aufleben, eine Anfeuerung der alten Euphorie, oder das Endspiel, das leidige Ende der großen Feuersbrünste von einst?“ Mit dieser Eingangsfrage beschäftigt sich der Erzähler in Florjan Lipus‘ fulminanter Erzählung „Seelenruhig“, in der er ein von ländlicher Enge und väterlichem Schweigen geprägtes Leben auffächert.

Am morgigen Donnerstag liest der Kärntner Autor, der in seiner Muttersprache Slowenisch schreibt, im Rahmen des Literaturfestivals „O-Töne“ im Museumsquartier. Dem sommerlich gut gelaunten Publikum wird dabei einiges an Konzentration abverlangt werden, ist „Seelenruhig“ doch ein bis in den letzten Winkel jedes Worts verdichtetes Lebenszeugnis, das trotz seiner Ernsthaftigkeit streckenweise mit luftigem Humor überzogen ist. Es ist eine messerscharfe Selbstreflexion eines Dichters, eine analytische Annäherung an das Aufwachsen während des Zweiten Weltkriegs, ein Verstehen-Wollen kindlicher Erinnerungsfetzen von Mutter und Großmutter, eine späte Versöhnung mit dem väterlichen Schweigen und ein stetes Erinnern an die Gräueltaten der Nazis.

„Immer von Neuem, aber jedesmal mit einem neuen Verfahren und frischem Zugriff macht er sich an die ein und dieselben Themen und Motive“, schrieb der inzwischen verstorbene Fabjan Hafner im Nachwort zu dem im Jung und Jung Verlag erschienenen Buch, in dem es an einer Stelle selbst heißt: „Ein Wanderer, der von dem steinigen Grund ein und dasselbe einzige Gestein aufliest und sammelt. Ein Schriftsteller, der sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt.“

Beginnend am Ende, in der Reflexion des alternden Dichters über seine Fingerblitze, bewegt sich Lipus nahtlos zurück in die Kindheit, die Jugend, streift das Weggehen und das Zurückkehren. Dabei macht er auch Halt bei Themen wie der Kirche, wenn es zu Beginn der ausführlichen Passage heißt: „Die Kirche erzeugt im Menschen ein Schuldgefühl und sichert sich dadurch die Macht über ihn; ihre Herren bestimmen, was gut ist und was schlecht.“ Es geht um zerrüttetes Selbstbewusstsein, getrübtes Selbstvertrauen. Gespiegelt zur kirchlichen Übermacht schildert Lipus in rückblickend kindlicher Naivität aber auch den Volksglauben, den er von seiner Großmutter mitbekam, von ins Bett geschnitzten geheimnisvollen Zeichen zur Abschreckung von Druckgeistern, der „Drud“.

Große Dringlichkeit entwickelt Lipus in den Passagen, in denen sich der Erzähler am Grab des Vaters mit dessen Grausamkeiten aussöhnen will. „Er hat erkannt, dass er einen Vater hat, selbst aber zweifelt er, ob auch dem Vater von ihm erzählt worden ist“, heißt es etwa, wenn es um den nie realisierten Versuch geht, den Blick des Vaters auf sich zu ziehen, sich ihm zu „zeigen“, um neben all der gemeinsamen handwerklichen Arbeit auch einmal wirklich wahrgenommen zu werden. „Er wird sich vor ihn hinstellen und vor seine Augen treten, sobald er das Werkzeug aus der Hand legt. Aber es hat sich nicht so ergeben, alle Gelegenheiten schlugen fehl und verpufften.“

Lipus geht es in „Seelenruhig“ nicht darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern die eigene Geschichte im Spiegel der Geschichte zu sehen, der Menschen und der Umstände. Es ist ein ständiges Kreisen um sprachliche Möglichkeiten, jene Dinge festzumachen, die nicht so leicht zu fassen sind. Dies gelingt ihm eindringlich, der Leser wird mit jedem Satz gefordert, hineingezogen in diese dunkle Welt, aus der sich Lipus schreibend zu befreien sucht. Dieses beständige Streben, das sich auch in früheren Werken wie etwa seinem Erstling „Der Zögling Tjaz“ (1972 auf Slowenisch) oder „Der Beseitigung meines Dorfes“ (1983) findet, hat der 80-Jährige in „Seelenruhig“ auf den Punkt gebracht. „Haben die Verstorbenen endlich ihre verdiente Ruhe gefunden?“, fragt Fabjan Hafner im Nachwort, in dem er die Doppelbedeutung des slowenischen Titels („Mirne duse“) erklärt. „Oder spricht jemand ‚ohne Bedenken, ruhigen Gewissens‘ über die Vorfahren, die Liebe und das Schaffen?“

Peter Handke, der den „Zögling Tjaz“ 1981 gemeinsam mit Helga Mracnikar ins Deutsche übersetzte, geriet in einem APA-Interview vor einem Jahr über Lipus ins Schwärmen: „Sein ‚Bostjans Flug‘ ist für mich eines der drei, vier Bücher, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich geschrieben wurden und Weltliteratur sind.“ Sein Vorschlag, Lipus den Großen Österreichischen Staatspreis zuzuerkennen, sei jedoch an der Tatsache gescheitert, dass der Autor nicht auf Deutsch schreibe. Nachsatz: „Das ist ein Unrecht.“

TT-ePaper 4 Wochen gratis lesen

Die Zeitung jederzeit digital abrufen, ohne automatische Verlängerung

(S E R V I C E - Florjan Lipus: „Seelenruhig“, übersetzt von Johann Strutz, Jung und Jung Verlag, 112 S., 18 Euro. Lesung im Rahmen der O-Töne am 24. August, 20.30 Uhr im Wiener Museumsquartier)

ZUR PERSON: Florjan Lipus wurde am 4. Mai 1937 in Lobnig/Lobnik bei Eisenkappel/Zelezna Kapla geboren. Er musste als Kind mit mitansehen, wie seine Mutter - nachdem sie eine als Partisanen verkleidete Gruppe von Gestapo-Männern bewirtet hatte - vor seinen Augen verhaftet wurde. Sie wurde im KZ Ravensbrück ermordet, während sein Vater in der Deutschen Wehrmacht dienen musste. Von 1960 bis 1998 war Lipus als Volksschullehrer und -direktor tätig. Zugleich war er von 1960 bis 1980 Herausgeber der Kärntner-slowenischen Literaturzeitschrift „Mladje“ und veröffentlichte zahlreiche Erzählungen, Romane und Essays.

Zu Lipus‘ bekanntesten Werken zählen „Der Zögling Tjaz“, „Die Beseitigung meines Dorfes“, „Die Verweigerung der Wehmut“ und „Herzflecken“ sowie der 2012 im Suhrkamp Verlag erschienene Roman „Bostjans Flug“ in deutscher Übersetzung. Für diesen 2003 erschienenen Roman wurde Lipus 2004 mit dem France-Preseren-Preis und 2011 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet. 2005 erhielt er den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, 2013 den mit 14.500 Euro dotierten Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz.