Politische Gespräche in Alpbach: Zwischen Zerfall und Hoffnung
Mit einer beklemmenden Inszenierung haben gestern die Politischen Gespräche in Alpbach begonnen. Bundespräsident Van der Bellen zeigte Lust auf Debatte.
Von Floo Weißmann
Alpbach – Auf der Videowand eine Frau, die schwer atmet. Helfer und Lokalpolitiker, die von ihrer Betroffenheit erzählen. Schauspieler, die eingesperrten Flüchtlingen eine Stimme verleihen. Dazwischen die europäische Hymne „Ode an die Freude“, intoniert als sanfte Trauermusik.
Am Sonntag vor zwei Jahren erstickten 71 Flüchtlinge – Männer, Frauen und Kinder – in einem Schlepper-Lkw auf dem Weg von Ungarn nach Österreich. Die Nachricht erschütterte damals auch das Europäische Forum Alpbach. Heuer eröffnete die Alpbacher Regie die Politischen Gespräche mit einem Theaterstück zur Tragödie von Parndorf.
In der Paraphrase auf „71 oder Der Fluch der Primzahl“ wird der Mangel an Sauerstoff zur Metapher für Europa. Die beklemmende Inszenierung bleibt nicht die einzige Neuerung. Es gibt einen Saal und mit Alexander Van der Bellen einen neuen Bundespräsidenten als Eröffnungsredner – und der muss wohl so lange wie keiner seiner Vorgänger auf seinen Auftritt warten.
Zuerst kommen junge Leute ans Wort, etwa die gebürtige Somalierin Farah Abdi, die über das Mittelmeer nach Europa kam und heute als erfolgreiche Aktivistin und Publizistin in Berlin lebt. „Ich weiß, dass Flüchtlinge Talente haben und etwas beitragen wollen“, sagt sie. In dem Lkw in Parndorf, meint Abdi, hätte auch ein möglicher zukünftiger Kanzler sein können.
Dann der Wiener Historiker Philipp Blom mit seiner provokanten Ansage: „Europa hat keine Zukunft.“ Weil nämlich, so Blom, die Europäer die Gegenwart konservieren wollen, statt die Herausforderungen der Zukunft anzupacken.
Und schließlich erst der Bundespräsident, der in seiner mürrischen Art Lust auf Debatte zeigt: „Bevor ich beginne: Ich bin absolut nicht Ihrer Ansicht, Herr Blom.“ Van der Bellen ortet Bewegung bei den Alten, die nicht wieder das wollen, was sie schon hatten, und bei den Jungen, „die erkannt haben, dass ihre Zukunft auf dem Spiel steht“.
Der Bundespräsident preist die EU als „einzigartige Zivilisationsleistung – hergestellt durch pure Einsicht, ohne Gewalt“. Sicher, die Briten wollen nun austreten, aber „soll uns das in Depression versetzen? – Ich glaube nicht.“
Mehrfach geht Van der Bellen auf Vorredner ein, macht Denkpausen. Die Grenzen zwischen vorbereiteter Rede und spontanem Debattenbeitrag verschwimmen. Zwischendrin macht er auf Englisch weiter und kommt erst drauf, als er am Manuskript keinen Anschluss mehr findet. Er hebt die Zettel hoch: „Ich dachte gerade, was ist das?“ Schallendes Gelächter.
Dann wird es wieder ernst. Gemeinsam seien die Europäer stärker als jeder für sich allein, mahnt der Bundespräsident. Europa habe problematische Nachbarn, die die Union auseinanderdividieren wollen, warnt er mit Blick auf die USA und Russland. Deshalb sei es „im Interesse jedes Mitgliedstaats, nicht zurückzufallen in die alte Kleinstaaterei“. Er gibt sich zuversichtlich, dass das klappen kann: „Ich bin guter Dinge.“