Abstimmungspoker um EU-Arzneimittelagentur und Bankenaufsicht
London (APA) - Mit Ende der Sommerpause beginnt in Brüssel das Tauziehen um eine prestigeträchtige Sitzfrage - nämlich wohin die bisher in L...
London (APA) - Mit Ende der Sommerpause beginnt in Brüssel das Tauziehen um eine prestigeträchtige Sitzfrage - nämlich wohin die bisher in London ansässige EU-Arzneimittelagentur (EMA) und die EU-Bankenaufsicht (EBA) im Zuge des Brexit verlegt werden. 19 Städte, darunter Wien, haben sich um die EMA beworben, acht bemühen sich um die EBA.
Auch wenn sich Österreich gute Chancen ausrechnet - am Ende könnte ein Abstimmungspoker auch zu überraschenden Ergebnissen führen. Bis zum 30. September will die EU-Kommission die Bewerbungen prüfen. Doch will die Kommission dabei keine ausdrückliche Vorauswahl, etwa in Form einer „Shortlist“ treffen, sondern die „heiße Kartoffel“ an die Staaten weiterreichen.
Am 16. Oktober findet eine Diskussion über die Sitzverlegung beim EU-Außenministerrat in Luxemburg statt. Erst im November soll eine Entscheidung durch geheime Abstimmung unter den 27 EU-Staaten in Brüssel fallen. Großbritannien sitzt dabei nicht mit am Tisch, denn entschieden wird im Format eines Allgemeinen Rats, zu dem die 27 EU-Staaten bei Brexit-Fragen zusammenkommen.
Sechs Kriterien hatten die EU-Staaten zur Verlagerung der beiden EU-Agenturen definiert: Beide Agenturen müssen ab dem britischen EU-Austritt Ende März 2019 an dem neuen Ort funktionsbereit sein. Dies umfasst etwa die Logistik, ausreichende Büroräume, Telekommunikation, Datenspeicher und IT-Standards. Ein weiteres Kriterium ist die Zugänglichkeit des Ortes, etwa durch Flugverbindungen und öffentlichen Transport, sowie ausreichende Hotelkapazitäten.
Andere Voraussetzungen sind mehrsprachige, europäisch ausgerichtete Schulen für die Kinder der EU-Agenturbeamten sowie der Zugang zu Arbeitsmarkt, Sozial- und Gesundheitssystemen für Kinder und Ehefrauen. Außerdem muss sichergestellt sein, dass die Agenturen ihre Geschäftstätigkeit, also etwa die Zulassung von Arzneimittel, lückenlos fortsetzen können, auch mit neuem Personal, das in Folge der Übersiedlung rekrutiert werden müsste.
Das politisch heikelste Kriterium ist die „geografische Verteilung“ der prestigeträchtigen und in wirtschaftlicher Hinsicht begehrten EU-Einrichtungen. Verwiesen wird auf Gipfelbeschlüsse aus 2003 und 2008, wonach bei der Agenturvergabe jene Länder Priorität haben, die noch keine Agenturen beherbergen. So gibt es in Kroatien, Bulgarien, Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Zypern bis heute keine EU-Agentur.
Neben Wien haben sich für die EMA auch Amsterdam (Niederlande), Athen (Griechenland), Barcelona (Spanien), Bonn (Deutschland), Bratislava (Slowakei), Brüssel (Belgien), Bukarest (Rumänien), Kopenhagen (Dänemark), Dublin (Irland), Helsinki (Finnland), Lille (Frankreich), Mailand (Italien), Porto (Portugal), Sofia (Bulgarien), Stockholm (Schweden), Valletta (Malta), Warschau (Polen) und Zagreb (Kroatien) beworben. Für die EBA gehen neben Wien ebenfalls Brüssel, Dublin, Frankfurt/Main, Paris, Prag, Luxemburg und Warschau ins Rennen.
Österreich hat seit 2007 in Wien die Europäische Grundrechteagentur, macht aber geltend, dass diese über nur 90 Mitarbeiter verfügt, während etwa Mitbewerber wie Kopenhagen die viel größere EU-Umweltagentur beherbergen. Die EMA verfügt über fast 900 Mitarbeiter, mehr als die Hälfte von ihnen sind verheiratet oder in einer registrierten Partnerschaft, Schulplätze für mehr als 600 Kinder werden benötigt. Würde Bratislava das Rennen machen, könnte Wien durch den Flughafen Schwechat und Übernachtungen zumindest auf indirekte wirtschaftliche Impulse hoffen.
Für Kopfzerbrechen in den Hauptstädten sorgt jetzt schon, mit welcher Taktik die Bewerber in die Abstimmung gehen. Von Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) wurde das Verfahren als „eine Art Eurovision-Songcontest“ bezeichnet. Vorgesehen sind bis zu drei Abstimmungsrunden. In der ersten können die 27 Staaten drei, zwei und einen Punkt(e) an ihre Favoriten vergeben, in den nächsten Runden nur noch einen Punkt an die drei Bestplatzierten. Dass es in eine zweite Runde geht, ist wahrscheinlich, denn um in erster Runde zu gewinnen, bräuchte ein Bewerber auf Anhieb jeweils drei Punkte von 14 EU-Staaten.
Sollten die EU-Staaten versuchen, den Abstand zu ihren Konkurrenten zu vergrößern, könnten sie sich selbst die meisten Punkte und einem Außenseiter die zweitmeisten Punkte geben, wird hinter den Kulissen spekuliert. Dadurch könnten unter Umständen Standorte das Rennen machen, die rein nach den Kriterien betrachtet nicht die beste Qualifikation haben. Eine andere offene Frage ist, welche Allianzen am Ende des Tages wirksam werden. So wurde bereits darüber spekuliert, dass sich Frankreich und Deutschland gegenseitig unterstützen für Frankfurt als Standort der Bankenaufsicht und Lille für die EMA. Auch die Skandinavier und die Osteuropäer könnten sich gegenseitig unterstützen.
Am Ende könnte die estnische EU-Präsidentschaft sogar das Los entscheiden lassen, nämlich dann, wenn zwischen den Bewerbern bis zum Schluss Punktegleichstand herrscht. Diese Option ist in dem Ratsbeschluss vom Juni ausdrücklich verankert. Angesichts des komplizierten Verfahrens, der geheimen Wahl und der Fülle an taktischen Möglichkeiten sind Vorsagen zum jetzigen Moment nur „Kaffeesudleserei“, sagte ein ranghoher Diplomat.