Vom Leben gezeichnet
In der Graphic Novel „Mercy on Me“ erzählt der deutsche Comiczeichner Reinhard Kleist vom Musiker Nick Cave als Künstler und als Kunstfigur.
Von Joachim Leitner
Innsbruck –Die Legendenbildung um den australischen Musiker Nick Cave, der – das ist beglaubigt – am 22. September 60 Jahre alt wird, begann früh. Und der maßgeblichste Mythenmacher war Nick Cave selbst. Von Anfang an habe er „seine eigene Karriere als zu erzählende Geschichte begriffen“, schreibt der einstige Spex-Chefredakteuer und Cave-Biograph Max Dax in seinem aufschlussreichen Vorwort von Richard Kleists kunstvollem Band „Nick Cave & The Bad Seeds“. Noch bevor Cave im West-Berlin der Achtzigerjahre als stilbildender Superstar des Undergrounds galt, inszenierte er sich als solcher, reicherte Erlebtes mit Erfundenem an – und zelebrierte bereits in jungen Jahren die abgründige Abgebrühtheit des Poète maudit, der bereits 1001 Leben gelebt hat.
„Nick Cave & The Bad Seeds“ ist eine Sammlung von Vorarbeiten, die Reinhard Kleist, der auch international wohl renommierteste deutsche Comiczeichner und Illustrator, für seine Graphic Novel „Nick Cave – Mercy on Me“ zu Papier gebracht hat. Sie macht anschaulich, wie sich der Zeichner dem Künstler und der Kunstfigur angenähert hat, wie sich der grimmig-expressive Stil entwickelt hat, in dem er in „Mercy on Me“ auf mehr als 300 Seiten Caves Leben erzählt. Wobei, eine klassische Biografie ist auch „Mercy on Me“ nicht: Auch hier wird vom Musiker als Mythos erzählt. Vom Mythos, der sich selbst erzeugt, aus Anekdoten, Songs, Film- und Musikvideoszenen, hochliterarischen Versatzstücken und ins Barocke potenzierter Rock-’n’-Roll-Romantik. Kleists in Übereinkunft mit dem Porträtierten erprobtes Verfahren erinnert nicht von ungefähr an Todd Haynes filmisches Bob-Dylan-Mysterienspiel „I’m Not There“. Und auch das Resultat ist ähnlich beeindruckend: ein Künstlerleben als fiebriger Traum eines dahinsiechenden Flüchtlings, verzweifelt, zornig, überdreht – und letztlich vielleicht doch nur ein böser Witz. Wie die Lyrik der Romantik, der wiederum Nick Caves Songwriting einiges verdankt, bringen auch in „Mercy on Me“ bittere Pointen das mit viel Liebe zum Detail in Szene Gesetzte immer wieder zu Fall. Und aus den Trümmern erheben sich immer neue Geschichten über todgeweihte Tölpel, durchzechte Nächte in halbseidenen Kneipen und Cowboys, denen das Pferd unterm Hintern wegstirbt.
Apropos Cowboys: Zu Nick Cave, der sich im vergangenen Jahrzehnt selbst um die Wiederbelebung des Western verdient gemacht hat, zählt John Fords „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“. Darin fällt kurz vor Schluss ein bis heute viel zitierter Satz: „Wenn die Legende zur Tatsache geworden ist, druck die Legende.“ Was genau das bedeuten soll, ist unerheblich. Mit „Mercy on Me“ stellen Nick Cave und Reinhard Kleist eindrucksvoll unter Beweis, dass der Satz nicht nur für den einst so Wilden Westen gilt, sondern auch für West-Berlin. Und heutzutage gilt er sowieso.
Graphic Novel Reinhard Kleist: Nick Cave – Mercy on Me. Carlsen, 238 Seiten, 25,70 Euro. Artbook Reinhard Kleist: Nick Cave & The Bad Seeds. Carlsen, 95 Seiten, 25,70 Euro.