Bitterer Familienroman: Susanne Scholls „Wachtraum“
Wien (APA) - Als ORF-Korrespondentin in Moskau war Susanne Scholl Vorbild für kritischen und seriösen Journalismus und prägte das Russland-B...
Wien (APA) - Als ORF-Korrespondentin in Moskau war Susanne Scholl Vorbild für kritischen und seriösen Journalismus und prägte das Russland-Bild einer halben Generation. Als Autorin verbindet sie auch in ihren fiktionalen Büchern humanitäres Engagement, historisches Wissen und Interesse an menschlichen Schicksalen. Ihr eben erschienener „Wachtraum“ war als ihr bisher „persönlichster Roman“ angekündigt worden.
Es ist eine personenreiche Familiengeschichte, die Scholl in ihrem Buch erzählt, und es braucht angesichts der gewählten nicht chronologischen Erzählweise mitunter einige Konzentration, alle Namen und Generationen, Zeiten und Orte immer richtig einzuordnen. Ausgehend von einer zunächst sehr engen Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Fritzi und der im Wien der 1960er-Jahre aufwachsenden Lea geht es hinunter in die Familiengeschichte und hinauf in die Gegenwart.
Bald ist klar: Die sehr emotionale und um ihre Familie und Freunde stets überaus besorgte Fritzi entstammt einer Wiener jüdischen Familie, von der zahlreiche Mitglieder in der NS-Zeit ermordet wurden, während sie selbst in England überlebte. Die Zeit in der Emigration war hart, aber kein Vergleich mit dem, was die in der Heimat Verbliebenen erleiden mussten. „Als Kind klingt das alles für Lea, als erzählten sie sich Geschichten aus dem Mittelalter. Gruselgeschichten. (...) Für Lea waren die alten Geschichten unheimliche Märchen. Das war ja alles lange vor ihrer Geburt, ihr würde so etwas ja nie passieren, davon war sie als Kind überzeugt.“ Dies als gefährlichen Irrglauben darzustellen, ist das offenkundige Ziel von Scholls Roman. Das Gute setzt sich nie von selbst durch. Es muss stets aufs Neue erkämpft und verteidigt werden.
Gemeinsam mit Lea erfährt auch der Leser immer mehr von der schmerzlichen Familiengeschichte, die von Wien in NS-Todeslager, in einen israelischen Kibbuz oder nach London und Leeds führt (wo, Hinweis an das Lektorat, in den Tearooms noch immer „Scones“ und nicht „Scoones“ serviert werden). Viele Personen und viele Episoden werden angerissen, mehr als einmal wünscht man sich eine gewisse Konzentrierung auf atmosphärische und charakterliche Vertiefungen. Wirklich gut lernt man jedoch Lea und Fritzi kennen: Fritzi, die sich ihre Lebenslust lange nicht nehmen ließ und sie gegenüber den Tragödien des Lebens verbissen verteidigte, und ihre Tochter, die zunehmend an der Last des Gehörten und selbst Erlebten zerbricht.
In kurzen Traumerzählungen zeigt Scholl, wie sehr Lea das Familientrauma belastet und sich die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Die Autorin erweist sich als unerbittlich. In der Flüchtlingskrise 2015 verliert ihre Tochter Mimi als Helferin ihr Herz an einen afghanischen Flüchtling, doch alle Versuche einer Heirat oder eines dauerhaften Aufenthalts scheitern tragisch. Ihr Sohn Harry dagegen wird mit seiner Freundin beim Terror-Überfall auf die Pariser Konzerthalle Bataclan ermordet. Und ihr Mann, der zunehmend verstummte und sie in ihrem Schmerz allein ließ, zieht schließlich zum zweiten Sohn in die USA. Lea bleibt allein zurück.
„Und plötzlich war da der Hass. Der Hass auf die Selbstgefälligkeit, der sie in dieser Stadt so oft begegnete. Hass auf die Ablehnung jener, die Hilfe suchten. Hass auf sich selbst und die Lüge, mit der sie so lange gelebt hatte. Die Lüge von der Sicherheit, die sie nie gefunden hatte.“ Ein bitteres Buch.
(S E R V I C E - Susanne Scholl: „Wachtraum“, Residenz Verlag, 220 S., 22 Euro, Buchpräsentationen und Lesungen, u.a.: 3.10.: Wien, Thalia Mariahilf, 12.10.: Oberwart, Offenes Haus)