Wie viel Zuwanderung braucht die deutsche Wirtschaft?
Berlin (APA/Reuters) - Es erscheint wie ein Widerspruch: Die deutsche Wirtschaft fordert mehr Zuwanderung aus dem Ausland, obwohl allein in ...
Berlin (APA/Reuters) - Es erscheint wie ein Widerspruch: Die deutsche Wirtschaft fordert mehr Zuwanderung aus dem Ausland, obwohl allein in diesem Jahr etwa 600.000 Menschen mehr nach Deutschland kommen als es verlassen. Ausländische Fachkräfte sollen auf lange Sicht dazu beitragen, dass das Arbeitskräfteangebot nicht dramatisch sinkt.
„Wenn wir gar keine Zuwanderung hätten, würde das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2060 um 35 bis 40 Prozent sinken“, warnt der Migrationsexperte Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Aber wie viel Zuwanderung ist nötig, damit Deutschland die Arbeitskräfte nicht ausgehen?
In die Gespräche über eine Jamaika-Koalition gehen CDU, FDP und Grüne mit Vorschlägen, wie Deutschland mehr Fachkräfte aus dem Ausland anziehen kann. Während die CDU ein „Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz“ im Blick hat, pochen FDP und Grüne auf ein umfassendes Einwanderungsgesetz, das mehr Transparenz schafft. Auf eine konkrete Zuwandererzahl hat sich bisher keine der Parteien festgelegt. Aus Sicht von Experten, die wenig von festen Einreise-Kontingenten halten, liegen sie damit richtig.
„Bei der erwerbsbezogenen Migration in den Arbeitsmarkt sollten wir nicht über eine konkrete Zahl reden, die jedes Jahr angepasst würde“, sagte der Arbeitsmarktexperte der FDP, Johannes Vogel, der Nachrichtenagentur Reuters. Das sieht auch IAB-Experte Brücker so. „Wenn wir die Entscheidung der Politik überlassen, würde enorm um die Zahlen gerungen“, sagte Brücker zu Reuters. „Der Entwicklung am Arbeitsmarkt würde man wahrscheinlich um Jahre hinterher hinken.“
Ein Beispiel für Arbeitskräfte-Zuwanderung als feste Größe gab die SPD in ihrem Entwurf eines Einwanderungsgesetzes. Der Bundestag sollte jedes Jahr ein Kontingent festlegen, anfangs sollten es jährlich 25.000 Personen sein, die zur Jobsuche oder zum Zweck der Erwerbstätigkeit aus Ländern außerhalb der Europäischen Union einreisen dürften. „Das sind homöopathische Dosen“, sagt Brücker. „25.000 bei etwa 45 Millionen Erwerbspersonen haben eine Arbeitsmarktwirkung von Null.“
Die großen Wirtschaftsverbände wie Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) plädieren zwar für Arbeitszuwanderung aus dem Ausland, nennen aber keine Zahlen. „Wir müssen stärker dafür werben, dass mehr Talente aus dem Ausland zu uns in Ausbildung und Beschäftigung kommen“, gab Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer zu Protokoll. Laut einer DIHK-Umfrage sehen die Unternehmen den Fachkräftemangel mittlerweile als ihr größtes Geschäftsrisiko: Mehr als jedes zweite Unternehmen sehe seine wirtschaftliche Entwicklung hierdurch gefährdet.
Aus rein demografischen Gründen gehen dem Arbeitsmarkt jedes Jahr über 300.000 Arbeitskräfte verloren: Es gehen mehr Menschen in Pesnion, als aus dem Bildungssystem nachkommen. Die hohe Zuwanderung der vergangenen Jahre - zunächst vor allem als Folge der EU-Freizügigkeit sowie der Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa, dann durch die Flüchtlingsmigration - hat dies nur vorübergehend verdeckt, weil sie die demografische Schrumpfung mehr als ausgeglichen hat. Das wird auch 2018 noch so sein. „Wir erwarten einen Zuwanderungssaldo von über 500.000 Personen“, sagt Enzo Weber vom IAB. Damit könnte eine Rekordzahl von 47,3 Millionen Arbeitskräften zur Verfügung stehen.
Eine steigende Erwerbstätigkeit von Frauen, längeres Arbeiten im Alter und ein stärkerer Abbau der Arbeitslosigkeit allein können den Demografieeffekt nicht stoppen. Die tragende Säule etwa von Rente und Krankenversicherung sind aber Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Sinkt die Beschäftigung über einen langen Zeitraum, geraten sie aus dem Lot. „Der springende Punkt sind die alternde Bevölkerung und die sozialen Sicherungssysteme“, sagt Brücker. „Bei einer Netto-Zuwanderung von 400.000 bliebe das Arbeitskräfteangebot konstant.“
Einig sind sich CDU, FDP und Grüne, dass mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen sollen. Doch steuern lässt sich dies nur schwer. Innerhalb der Europäischen Union sind die Grenzen für Arbeitnehmer ohnehin offen. Steuern lässt sich daher nur die Zuwanderung aus den Drittstaaten außerhalb der EU. Experten sehen hier Nachholbedarf, größere Anreize zu setzen, dass Menschen von vorneherein mit einem Jobangebot einreisen.
„Wir hatten 2016 ganze 50.000 Visa, die zu Erwerbszwecken erteilt wurden“, kritisiert Brücker. „Das waren rund sieben Prozent aller Zuzüge aus Drittstaaten.“ Die meisten kämen über Familiennachzug oder auf der Grundlage humanitärer Migration. „Das ist problematisch, weil von den Menschen, die schon zum Erwerbszweck einreisen, nach zwei Jahren etwa doppelt so viele erwerbstätig sind wie bei Geflüchteten.“ Er plädiert dafür, dass 40 bis 50 Prozent über ein Visum zu Erwerbszwecken kommen. „Das wäre 2016 - bei rund 673.000 Zuzügen aus Drittstaaten - eine Größenordnung von etwa 300.000 gewesen.“
Wie Brücker lehnt auch die FDP die Vorgabe einer festen Zahl ab. „Klüger ist es, den Bedarf über zwei Stellschrauben zu steuern“, sagt FDP-Arbeitsmarktexperte Vogel. Er verweist auf die Blaue Karte der EU, die Hochqualifizierten eine Einreise bei konkretem Jobangebot erlaubt. „Bei der Blue Card ist ein Arbeitsvertrag die Voraussetzung“, sagt Vogel. Ergänzend plädiert die FDP für ein Punktesystem, das zum Beispiel Qualifikation und Sprachkenntnisse belohnt. „Bei einem ergänzenden Punktesystem spielen Fachkräfteengpässe eine wichtige Rolle“, erläutert Vogel. „Wer in einem Mangelberuf wie zum Beispiel der Pflege tätig ist, kann leichter nach Deutschland kommen, wenn der Arbeitskräftebedarf steigt.“
Die FDP sähe somit im Arbeitsmarkt den Hebel, wie viel Zuwanderung benötigt wird. Brücker sieht dies ähnlich: „Ich plädiere dafür, die Schwellen für die Erwerbszuwanderung zu senken. Es darf aber nur kommen, wer eine Arbeitsplatzzusage hat. Dann würde der Arbeitsmarkt sehr viel selber steuern.“