1918/2018 - „Wien 1918“: Alltag in einer agonisierenden Metropole
Wien (APA) - 1918: Ende des Ersten Weltkriegs, Zerfall der Donaumonarchie, Ausrufung der Republik Österreich. Historische Ereignisse, die ga...
Wien (APA) - 1918: Ende des Ersten Weltkriegs, Zerfall der Donaumonarchie, Ausrufung der Republik Österreich. Historische Ereignisse, die ganze Bibliotheken füllen. Wie aber sah die „Geschichte von unten“ aus, der Alltag am Ende einer Epoche und zu Beginn einer ungewissen neuen Zeitrechnung? Der Publizist Edgard Haider hat die Agonie einer Kaiserstadt in seinem neuen Buch „Wien 1918“ rekonstruiert.
Überall herrscht bittere Not: „1918 ist das Angebot an Lebensmitteln in Wien auf ein Drittel des Friedensniveaus gesunken. Die Menschen müssen im Durchschnitt mit 830 Kalorien pro Tag das Auslangen finden. Viel zu wenig, um mit ausreichend Kraft den Alltag bewältigen zu können. Oder, wie man in Wien zu sagen pflegt: zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“ Es herrscht extreme Kriegsmüdigkeit, zumal die Jagd nach dem Notwendigsten zum Überleben längst alle Kräfte verzehrt. Kinder leiden an Unterernährung, die Stadt gleicht einer belagerten Festung, die durch Aushungern sturmreif gemacht werden soll.
Wie schon in seinem vor vier Jahren erschienenen Werk „Wien 1914“ stützt sich der Historiker vordringlich auf zeitgenössische Zeitungsartikel. Dort lässt sich nachlesen, dass das Leben in den letzten Kriegsmonaten in vielerlei Hinsicht äußerst beschwerlich war. Schon der Jahreswechsel brachte nach „märchenhaft weißen Weihnachten“, auf die wohl viele angesichts des eklatanten Mangels an Heizmaterial gerne verzichtet hätten, einen Schneesturm, der den öffentlichen Verkehr schwer beeinträchtigte.
„Viele Straßenbahnen fielen aus, um Plätze in den spärlich verkehrenden Zügen fanden regelrechte Kämpfe statt“, schreibt der Autor. „Mitfahren auf den Waggonpuffern war durchaus üblich und endete für manchen, wenn es glimpflich ablief, mit einem Beinbruch im Spital. Knapp vor Neujahr setzt kurzfristig Tauwetter ein. Schmutzlachen und überhängende Dachlawinen machen das Gehen auf der Straße zu einer fast akrobatischen Herausforderung. Schon drohen die Straßen im Morast zu versinken, da kehrt der Frost zurück und verwandelt Straßen und Gehsteige in spiegelglatte Eisflächen.“
Diese Passagen zeigen schon, was den Leser in diesem Buch erwartet: Ein detailgetreues Stimmungsbild des ganz normalen Lebens in der untergehenden k.u.k.-Metropole. Zwar vergisst Haider keineswegs darauf, die machtpolitischen Rahmenbedingungen im Sinne einer orthodox-institutionellen Geschichtsschreibung ebenso akkurat und penibel darzustellen. Etwa wenn es um die letzten Züge des Ersten Weltkriegs geht oder die vergeblichen Versuche von Kaiser Karl I., die Donaumonarchie zu retten.
Aber dennoch liegt der ganz besondere Reiz in jenen Passagen, in denen Haider Aspekte aufgreift, die im kollektiven Geschichtsbewusstsein nicht so verankert sind. „Das Elend der Kriegsgefangenen“ beispielsweise. Und zwar jener, die sich in Österreich in Gefangenschaft befanden. Es „ließ sich nicht gänzlich verbergen“, ist da zu lesen, „auf der Straße flehten sie Passanten um ein Stückchen Brot an, wühlten in Mistkübeln, gruben sogar nach Schlachtabfällen.“
In Wien-Meidling kam es bereits 1917 in einem Fall zu Solidaritätskundgebungen der Bevölkerung, „als einige in einem Trupp marschierende Kriegsgefangenen so erschöpft waren, dass sie nicht mehr die Formation halten konnten“. Die Folge: „Die Zuschauer erbarmten sich über die Unglückseligen, sie warfen ihnen Brot, Zigaretten und Geldstücke zu. Jetzt lösten sich die anderen aus der Eskorte, bettelten mit erhobenen Händen um ein Stück Brot. Mit dem Befehl ‚Zurück ins Glied!‘ versuchten die Truppführer die Ordnung wieder herzustellen.“
Die Kriegsbegeisterung und der bedingungslose Patriotismus war den Menschen 1918 schon längst vergangen. Es waren nicht die (ehemaligen, weil bereits paralysierten) Kriegsgegner, sondern die Ordnungshüter, die mit „Pfui“-Rufen bedacht wurden. „Frauen und Kinder liefen auf die Straße, um sich mit den Gepeinigten zu soldarisieren. Natürlich blieben Rufe wie ‚Schluss mit dem Krieg!‘ oder ‚Brot statt Krieg!‘ nicht aus. Solche Aktionen versetzten die Militärbehörden in Alarm, denn Fraternisierung und Solidarisierung trugen den Keim der Revolution nach russischem Vorbild in sich.“
Die Folge: Marschkolonnen von Kriegsgefangenen in Hauptverkehrsstraßen und in der gesamten Inneren Stadt wurden verboten. Nicht weitergeleitet wurden auch Briefe, in denen Kriegsgefangene Klage über ständigen Hunger führten. Das hätte nämlich Rückschlüsse auf die prekäre Lage der Monarchie bei der Lebensmittelversorgung zugelassen, wie der Autor analysiert.
Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg gab es damals noch keine Fliegerangriffe auf die Großstadt Wien, zumindest keine mit Bomben. Und dennoch tauchen am 9. August 1918 vom Süden kommend sechs Flugzeuge über dem Stadtgebiet auf. Das Geschwader fliegt so hoch, dass es vorerst für eine einheimische Formation bei einem Übungsflug gehalten wird. Doch das erweist sich rasch als Irrtum, als Flugzettel in den italienischen Farben abgeworfen werden. Es handelt sich um den berühmten Propagandaflug des Dichters Gabriele d‘Annunzio.
Was darauf stand, war bald - trotz Zensur - in der Presse zu lesen: „Wiener! Lernt die Italiener kennen! Wenn wir wollten, wir könnten ganze Tonnen von Bomben auf Eure Stadt hinabwerfen, aber wir senden Euch nur einen Gruß der Trikolore, der Trikolore der Freiheit. Wir Italiener führen den Krieg nicht mit Bürgern, Kindern, Greisen und Frauen. Wir führen den Krieg mit Eurer Regierung, dem Feinde der nationalen Freiheit, mit Eurer blinden, starrköpfigen und grausamen Regierung, die Euch weder Brot noch Frieden zu geben vermag und Euch nur mit Haß und trügerischen Hoffnungen füttert.“
D‘Annunzios Propaganda war etwas übertrieben, denn die Gefahr eines Bombengeschwader-Angriffs bestand 1918 noch nicht, erläutert Haider. Eine solche Last konnten die Flugzeuge auf diese große Distanz noch nicht tragen. Eines war seither aber gewiss: „Die Alpen als natürliche Festung sind (...) nicht mehr unüberwindlich.“
Am 12. November 1918 wurde jedenfalls nach dem Thronverzicht von Kaiser Karl - der vergeblich versucht hatte, einen nicht von ihm verursachten Krieg zu beenden - die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Doch beschreibt Edgard Haider auch hier nicht nur die Geschehnisse und das Getümmel vor dem Parlamentsgebäude in Wien, sondern blickt zudem auf einen Nebenschauplatz, der historisch aber nicht weniger aussagekräftig ist: „Einige Aristokraten lassen es sich an diesem 12. November 1918 nicht nehmen, der von der Republik berauschten Menschenmassen nicht achtend in die Schottenkirche zu eilen. Der regierende Fürst Johann II. von und zu Liechtenstein begeht sein 60-jähriges Thronjubiläum. In einer stillen Messe wird er der Gnade Gottes anempfohlen - wenigstens hier ist die Welt noch in Ordnung! Während der Andacht mag es manchem der Blaublütigen schmerzlich zu Bewusstsein kommen, dass das kleine Liechtenstein die einzige Monarchie auf deutschsprachigem Gebiet geblieben ist.“
(S E R V I C E - Edgard Haider: „Wien 1918“ Böhlau Verlag, 418 Seiten, 29,99 Euro. ISBN 978-3-205-20486-2. Das Buch wird am Dienstag, 31. Oktober, um 19 Uhr im Wiener Rathaus vorgestellt: Eingang Lichtenfelsgasse, Feststiege II, 1. Stock, Wappensaal)