Europa als Kontinent der Flucht: „Die Außenseiter“ von Philipp Ther

Wien (APA) - Für „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ erhielt der Historiker Philipp Ther 201...

Wien (APA) - Für „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ erhielt der Historiker Philipp Ther 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Auch sein neues Buch „Die Außenseiter - Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“ ist bereits für einige Auszeichnungen nominiert. Völlig zu Recht.

Mit dem Buch, das am Samstag auf der Buch Wien präsentiert wird, hat der 1967 im Vorarlberger Kleinwalsertal geborene Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien erneut nicht nur ein Gespür für aktuelle Themen bewiesen. Er argumentiert auch ein historisches Thema stets aus heutiger Perspektive. Und aus einer nicht verhohlenen, mit seinen Forschungen gut belegten, Intention: „Entgegen allen Integrationsängsten waren Flüchtlinge (und andere Migranten) historisch betrachtet fast immer eine Bereicherung für die Länder, die sie aufnahmen, und ein Motor wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen. Das vorliegende Buch sieht eine seiner Aufgaben darin, an dieses Potenzial zu erinnern“, schreibt er in seiner Einleitung.

Die Materialfülle ist erdrückend und bedrückend. Ab der Vertreibung der sephardischen Juden, bei der 1492 und 1513 rund 200.000 Menschen aus Spanien nach Nordafrika, Italien, in die Niederlande und ins Osmanische Reich flüchteten, scheint der Kontinent kaum je zur Ruhe gekommen sein. Ther bearbeitet sein Forschungsgebiet gründlich und systematisch. Er unterscheidet zunächst nach Fluchtgründen. Deprimierend genug: Sowohl für aus Glaubensgründen Geflüchtete und Vertriebene lassen sich ebenso mehr als genug Beispiele anführen wie für Fluchtbewegungen, die nationalistisch oder politisch begründet waren.

Ther identifiziert Push- und Pull-Faktoren der Flucht, bietet umfangreiche Zahlen- und Faktensammlungen und widmet sich ausführlich der Geschichte der Flüchtlinge nach Ankunft in ihren jeweiligen Aufnahmeländern. Ihr Leben nach der Flucht werde nämlich in den meisten Untersuchungen, die sich vornehmlich mit den Fluchtursachen und der Flucht selbst befassten, zu wenig berücksichtigt, „vielleicht auch deshalb, weil es seit je weniger Schlagzeilen und Empathie hervorgerufen hat“.

Dabei macht er durchaus auch die eine oder andere Erfolgsgeschichte der Integration aus, etwa jene der Hugenotten, die im 16. und 17. Jahrhundert massenhaft aus Frankreich vertrieben und an manchen anderen Orten mit offenen Armen aufgenommen wurden. Deren Integration habe allerdings zwei bis drei Generationen bedauert, gibt Ther zu bedenken. Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Integration einer enormen Menge an Flüchtlingen innerhalb Europas letztlich gut bewältigt worden.

Thers Stil ist nicht nüchtern-bürokratisch, sondern angesichts der Fülle des beschriebenen Leids durchaus teilnehmend und empathisch. Dem nicht genug, streut er in regelmäßigen Abständen „analytische Porträts“ ein, „die individuelle Flüchtlinge und andere maßgebliche Akteure massenhafter Fluchtbewegungen in den Blick nehmen“. Flüchtlinge, so Ther, seien schließlich nicht nur Objekte der Geschichte, sondern auch Subjekte und eigenständige Akteure. So erfährt man in kurzen, komprimierten Darstellungen über die persönlichen Lebensgeschichten von Prominenten wie Hannah Arendt und Madeleine Albright ebenso wie vom ertrunkenen syrischen Flüchtlingsbuben Alan Kurdi oder der 1787 aus Frankreich geflüchteten Familie Robillard de Champagne.

In der aktuellen Situation sei zu Optimismus kein Anlass, meint Ther. Das Verhalten einzelner Mitglieder der Staatengemeinschaft gegenüber Flüchtlingen, sogar wenn sie selbst Akteure in Konflikten (wie Russland in der Ukraine oder in Syrien) seien, das Umkippen der Willkommenskultur in Misstrauen und Abgrenzung, das Versagen von internationalen Mechanismen der Verpflichtung zur Verantwortung sind dabei nur einige Faktoren.

Die größte Gefahr sieht Ther aber in der Renaissance des Nationalismus: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte sich ebenfalls niemand vorstellen, in welche Abgründe radikale Nationalisten Europa stürzen und welche Fluchtbewegungen das nach sich ziehen würde“, schreibt er. „Diese Lehren der Geschichte darf man heute nicht vergessen, auch aus diesem Grund wurde dieses Buch geschrieben.“

(S E R V I C E - Philipp Ther: „Die Außenseiter - Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“, Suhrkamp, 436 Seiten, 26,80 Euro. Präsentation im Rahmen der Buch Wien am Samstag, 11.11., 14 Uhr, in der Messe Wien)