„Tiere für Fortgeschrittene“: Eva Menasse sieht das Tier im Menschen
Wien (APA) - Mit dem „Vienna“ hat die ehemalige Journalistin Eva Menasse 2005 als Autorin debütiert. Für den Erzählband „Tiere für Fortgesch...
Wien (APA) - Mit dem „Vienna“ hat die ehemalige Journalistin Eva Menasse 2005 als Autorin debütiert. Für den Erzählband „Tiere für Fortgeschrittene“ hat die in Berlin lebende Wienerin nun den Österreichischen Buchpreis erhalten. Ausgehend von kuriosen Tiermeldungen nähert sie sich darin menschlichen Verhaltensweisen an. Dabei entsteht ein schillerndes Panorama zwischen Alltäglichkeiten und Abgründen.
Wer kennt sie nicht, die Fotos von Igeln, die sich in McFlurry-Eisbechern verkeilt haben? Ein tragischer Umstand, der McDonald‘s schließlich veranlasste, den Eisbecher neu zu gestalten. Ein solcher Igel kommt in einer der acht in „Tiere für Fortgeschrittene“ (Kiepenheuer & Witsch) versammelten Erzählungen tatsächlich vor. Doch nicht in alle Geschichten haben die Tiermeldungen tatsächlich auch Eingang gefunden. Vielmehr bilden sie, den Kapiteln jeweils vorangestellt, einen feinen Faden, der sich um die jeweiligen Geschichten spinnt. Innerhalb des erzählerischen Rahmens bestimmter Situationen breitet Menasse Lebensgeschichten aus, analysiert die Auswirkungen von Vergangenem auf die konkrete Gegenwart und zerpflückt jahrelang aufgebaute Beziehungen in einzelnen, entlarvenden Szenen.
Im Falle von „Igel“ ist es die chaotische Micol, ein „entzückend exaltiertes Wesen mit vielen Talenten“, die ihr unstetes (Berufs)leben durch die Heirat mit einem finanziell gut ausgestatteten Geschäftsmann ausgleicht. Ein Blitzlicht auf die von aufrichtiger Liebe durchdrungene, aber sehr von Abhängigkeit geprägte Beziehung, wirft Menasse mithilfe eines Kurzurlaubs in Italien, der den Mikrokosmos dieser Liebe offenlegt. Es liegt auf der Hand, dass auch Micol - gleich dem Igel - bisweilen das Gefühl beschleicht, direkt an der süßen Futterquelle zu ersticken.
Weniger deutliche Bezüge bietet etwa die Erzählung „Raupen“, inspiriert von den Tabakschwärmer-Raupen, die sich beim Fressen ungewollt ihr eigenes Grab schaufeln: Konrad lebt allein mit seiner dementen Ehefrau Grete; die heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Töchtern, die auf Hinzuziehung einer entsprechenden „Dienstleistung“ pochen, sitzt er in seinem Keller aus, wo er nicht nur dem Pornokonsum huldigt, sondern auch akribisch an der perfekten Todesanzeige arbeitet. Menasse zeichnet die Zerrissenheit, die liebevolle Verzweiflung, die hingebungsvolle Selbstaufgabe mit kunstfertigen Sätzen, die den Leser angesichts des eigenen künftigen Verfalls schaudern lassen.
Die salzigen Tränen des Krokodils, auf dessen Kopf sich angeblich bisweilen Bienen und Schmetterlinge auf Nahrungssuche niederlassen, sind in „Schmetterlinge, Biene, Krokodil“ Ausgangspunkt für die familiäre Alltagshölle von Tom, einer Frau im mittleren Alter, die an ihrem Versuch, die perfekte Patchworkfamilie zu orchestrieren, innerlich zerbricht. Auch hier ist es ein Urlaub, seine Vor- und Nachwirkungen, der den Schauplatz für Menasses gnadenlosen Blick auf weibliche Schicksale bildet.
Unter dem Eindruck vom Tod des besten Freundes („Jetzt, in diesem Moment, könnte er noch kämpfen, wobei sich Tom nicht vorstellen mag, wie das genau aussähe. Wahrscheinlich sehr viel stiller als das Bewegung vortäuschende Verb.“) lässt sich Tom zur Buchung eines Pauschalurlaubs in der Türkei hinreißen, der zwar die Kinder (das eigene und die beiden ihres Mannes) restlos begeistert, aber die Bruchlinien in ihrer Beziehung zu Georg offenlegt. Und so ist „Tiere für Fortgeschrittene“ eine poetische Bestandsaufnahme der kleinen Besonderheiten des Alltäglichen und macht deutlich: Was bei Tieren kurios erscheint, lässt sich beim Menschen auf den zweiten Blick schnell wiederfinden.
(S E R V I C E - Eva Menasse: „Tiere für Fortgeschrittene“, Kiepenheuer & Witsch, 316 Seiten, 20,60 Euro)
(A V I S O - Wiederholung der APA-Rezension vom 9.3.2107)