Gratisbuch - Stewart O‘Nan: „Erfülle definitiv keine Erwartungen“

Wien (APA) - Stewart O‘Nan schreibt über wahre Helden: über Menschen aus unteren Schichten, deren Leben ein täglicher Kampf ist, die aber ni...

Wien (APA) - Stewart O‘Nan schreibt über wahre Helden: über Menschen aus unteren Schichten, deren Leben ein täglicher Kampf ist, die aber nie aufgeben. „Sie können sich das nicht erlauben. Besonders nicht in Amerika, wo Optimismus als größte Tugend gilt. Man macht weiter, egal was passiert“, sagte der US-Autor im APA-Interview. Sein Roman „Letzte Nacht“ wurde für die diesjährige Gratisbuch-Aktion ausgewählt.

100.000 Exemplare von „Letzte Nacht“ (Echomedia Verlag) werden im Rahmen von „Eine Stadt. Ein Buch“ ab Freitag in Wien vergeben. Eröffnet wird die Aktion am Donnerstag von Bürgermeister Michael Häupl in der Messe Wien (13.00 Uhr). „Es gibt nichts Besseres als Bücher in die Hände der Leser zu legen“, betonte der 1961 in Pittsburgh geborene O‘Nan am Tag davor beim Interview im Hotel Imperial. Es ist eine großartiger Gedanke, dass Tausende von Menschen ihre Zeit mit Manny, der Hauptfigur in meinem Roman, verbringen.“

„Letzte Nacht“ erzählt vom finalen Abend in einem Lokal einer Restaurantkette, das aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wird. Zugleich erfährt der Leser von der unglücklichen Liebesbeziehung des Geschäftsführers Manny zu seiner Mitarbeiterin Jacquie. „Ich erfülle definitiv keine Erwartungen“, sagte O‘Nan auf seine Arbeit angesprochen.

Lesen schmackhaft zu machen, hält der Autor naturgemäß für eine wichtige Sache. „In meiner Jugend war das Leben langweilig: Es gab keine Videospiele, keine sozialen Medien, keine Fernsehserien on demand. Es ist verständlich, dass es heute mehr braucht, um Leute zu unterhalten“, sagte O‘Nan. „Viele dieser Unterhaltungsmöglichkeiten sind auch sehr gut! Aber Lesen ist eine viel persönlichere und intimere Angelegenheit. Sich über ein Buch in eine andere Person hineinzuversetzen, die man sonst nie treffen würde, das macht für mich den besonderen Reiz am Lesen aus.“

Warum gerade „Letzte Nacht“ für die 16. Auflage der Gratisbuch-Aktion ausgewählt wurde? „Weil es kurz ist“, lachte O‘Nan laut auf. „In Amerika wird der Roman gerne im College-Unterricht durchgemacht, weil man ihn schnell zu lesen ist. Aber nein, ernsthaft, vermutlich, weil das Buch der Auslöser für viele Diskussionen sein kann. Ich denke, es ist ein gutes Buch für eine Lesegruppe.“ Darüber diskutieren können Interessierte am Freitag ab 19.30 Uhr in der Wien Energie-Welt Spittelau mit dem Autor selbst (kostenlose Karten dafür gibt es im dortigen Shop so lange der Vorrat reicht).

In Berichten über den Familienvater Steward O‘Nan findet man oft den Hinweis, er widmet sich in seinen Büchern Durchschnittsbürgern. „Am Anfang habe ich versucht, über Leute zu schreiben, über die noch nicht so viel geschrieben wurde“, sagte dazu O‘Nan. „Zum Beispiel über einen Mann, der auf meinem Weg in die Arbeit Zigaretten verkauft hat. Er war gerade erst aus China in die USA gekommen und er hat mit mir sein Englisch geübt. Aber ich glaube, niemand ist Durchschnitt, jeder Mensch ist außergewöhnlich. Auch dieser Chinese. Jeder macht außergewöhnliche Sachen durch.“

Viele wollen mit Büchern aus der Realität entfliehen, warum sollten sie zu O‘Nans mitunter recht düster-realistischen Romanen greifen? „Lesen ist immer eine Flucht aus der Realität. Egal, was man liest“, antwortet dieser. „Nur lernt man in Unterhaltungsromanen nichts. Oft werden bloß die eigenen Vorurteile verstärkt. Aber nimmt man ‚Letzte Nacht‘ zum Beispiel her, blickt man hinter die Kulissen eines Restaurants, wie man es noch nie getan hat. Es ändert deine Einstellung, wenn du das nächste Mal ein Restaurant betrittst.“

Bleibt noch die Frage, welche Autoren O‘Nan selbst geprägt haben. „Derzeit beeindruckt mich M.E. Forster ungemein. Darum trage ich gerade ‚Wiedersehen in Howards End‘ überall mit mir herum“, erzählte der 56-Jährige. „Als Jugendlicher habe ich Horror-Comics verschlungen und viele Abenteuergeschichten. Als Kind habe ich alle Tarzan-Bücher am Stück gelesen. Dann kamen Science-Fiction-Autoren wie Ray Bradbury und Theodore Sturgeon dazu. Erst später entdeckte ich Virginia Wolf, Franz Kafka, Albert Camus und James Joyce, weil ich keinen Literaturunterricht in der Schule hatte. Vermutlich vermischen sich deshalb in meinen Büchern manchmal die Genres.“

(Das Gespräch führte Wolfgang Hauptmann/APA)