Robert Harris: „Es liegt ein Hauch der 1930er in der Luft“

Wien (APA) - „Ich glaube, jetzt mache ich einmal Pause“, sagt Robert Harris. „Es wäre schön, einen Frühling zu haben.“ In den vergangenen fü...

Wien (APA) - „Ich glaube, jetzt mache ich einmal Pause“, sagt Robert Harris. „Es wäre schön, einen Frühling zu haben.“ In den vergangenen fünf Jahren hat der britische Bestsellerautor vier Bücher veröffentlicht - historische und zeitgeschichtliche Thriller wie zuletzt „München“, den er gestern, Donnerstag, bei der Buch Wien im voll besetzten Heeresgeschichtlichen Museum präsentiert hat.

„Ich schreibe von Jänner bis Juli, dann kommt wieder die Recherche“, erklärt der Cambridge-Absolvent, Historiker und langjährige BBC-Journalist im Gespräch mit der APA. Sie führte ihn ins alte Rom und in einen zukünftigen Vatikan, zu jüngeren Politskandalen und historischen Schlüsselszenen, die Harris jeweils nach allen Regeln des Page-Turners und unter dem Mikroskop der Romanform betrachtet.

In „München“ ist es das Treffen von Adolf Hitler, Neville Chamberlain, Edouard Daladier und Benito Mussolini im Jahr 1938, erzählt aus der Sicht zweier Übersetzer und Sekretäre, die sich noch aus Studientagen kennen. „Das Münchner Abkommen hat mich fasziniert, seit ich 1988 eine historische Doku für die BBC darüber gedreht habe“, so Harris. Damals hatte er sich mit Chamberlains Privatsekretär unterhalten - und von ihm eine ganz andere Sicht auf die Geschehnisse erfahren, als der historische Mainstream sie hat.

„Wenn man historische Romane schreibt, muss man sich die Welt so vorstellen, wie sie in diesem Moment war und nicht, wie sie im Rückblick aussieht“, sagt Harris. Das Münchner Abkommen werde immer im Lichte des späteren Weltkrieges gesehen - als große Niederlage der Appeasement-Politik. Doch damals, in dem Moment, gab es die verzweifelte Hoffnung auf Frieden, unter den Engländern, auch unter den Deutschen, die dem Verhandler Chamberlain in den Straßen Münchens zujubelten.

„Ich denke, dass wir Chamberlain heute unrecht tun“, sagt Harris. „Er war nicht naiv. Er wollte schlicht keinen Krieg. Er war überzeugt, ein neuer Weltkrieg würde die Zivilisation auslöschen. Und er hatte recht.“ Über „München“, dem Roman, liegt ein Schatten - der Schatten des Zukünftigen, der Katastrophe, um die der Leser bereits weiß. Einige der Protagonisten ahnen sie deutlicher als andere, spüren bereits, dass sie ihr Leben lassen werden beim aussichtslosen, aber unausweichlichen Versuch, sie zu verhindern.

Haben wir heute zu wenig Angst vor Krieg? „Vielleicht“, sagt Harris. „Es liegt schon so ein Hauch der 1930er Jahre in der Luft. Das Erstarken des Nationalismus in ganz Europa und in Amerika. Die leichtfertige Geringschätzung der Friedensinstitutionen. Die Briten, die Europa verlassen, die Amerikaner, die die NATO skeptisch sehen - es ist, als hätten wir vergessen, wie hoch der Preis dafür war.“

Hugh Legat, der britische Diplomat und Sekretär, den sich Harris erdacht hat, wird geplagt von Vorstellungen seiner Kinder mit Gasmasken. Sorgen macht ihm auch die offensichtliche Affäre seiner Frau, gegen die entschieden vorzugehen er sich aus Angst vor einer Demütigung bisher versagt hat. Dieser private Nebenschauplatz sei „ein Spiegel für das politische Appeasement“, so Harris. Auch wenn diese privaten Schicksale der Figuren kaum mehr als gestreift werden, hätten sie es ihm letztlich möglich gemacht, das historische Ereignis nach so vielen Jahren in seiner Schublade als Roman zu denken.

Über den Nationalsozialismus hat Harris schon mehrfach gearbeitet - nicht zuletzt in seinem allerersten Roman „Vaterland“ aus 1992. Für die Detektivgeschichte, die in einer alternativen Vergangenheit angesiedelt ist, in der die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, fand er in Deutschland damals keinen Verleger. „30 Verlage haben abgelehnt. Sich eine Welt auszudenken, in der die Nazis gewonnen haben, das allein betrachtete man als empörend.“

25 Jahre später sind die Sensibilitäten gesunken und verschoben. Harris, stets mehr besorgter Historiker als sensationslüsterner Romancier, legt seine Stirn in Falten. Auch der Aufstieg der Nationalsozialisten sei substanziell von einer Wirtschaftskrise befördert worden, sagt er. „Die Krise von 2008 haben wir scheinbar überstanden - aber nur, indem wir viel Wohlstand von ganz normalen Leuten zu sehr reichen Leute verschoben haben. Das schafft einen gefährlichen Nährboden.“

Seine Prognose für sein Land, für den Brexit? „Ich weiß es wirklich nicht. Das Land ist gespalten. Ich habe die große Sorge, dass es zum Crash kommt. Denn wir wissen, dass es fast nie die rationalen Kräfte sind, die den Lauf der Geschichte bestimmen, sondern die emotionalen.“ Und die entwickeln mitunter eine eigene Dynamik der Macht, die nicht mehr aufzuhalten ist. „Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wollte 1938 keinen Krieg. Die knappe Mehrheit der Briten, vor allem der kommenden Generation, will keinen Brexit. Das heißt nicht, dass man es aufhalten kann.“

(Das Gespräch führte Maria Scholl/APA)

(S E R V I C E - Robert Harris: „München“, Heyne Verlag, 430 Seiten, 22,70 Euro.)