Handkes „Obstdiebin“: Aus der Niemandsbucht ins „Café de l‘Univers“
Wien (APA) - Eine Reise von der „Niemandsbucht“ bei Paris in die französische Provinz, ins „Café de l‘Univers“ und in die „Herberge im Lande...
Wien (APA) - Eine Reise von der „Niemandsbucht“ bei Paris in die französische Provinz, ins „Café de l‘Univers“ und in die „Herberge im Landesinneren“, bietet der am Montag erscheinende große neue Roman von Peter Handke. Alles wie gehabt, also? Keineswegs. Es ist auch eine in einem Fest kulminierende Familiengeschichte, und im Mittelpunkt steht kein einsamer Wandersmann, sondern die titelgebende „Obstdiebin“.
„Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird“, hebt das Buch an. Der Erzähler, unverkennbar ein Alter Ego des Autors, nimmt den Stich als Zeichen: „Zeit, daß du dich auf den Weg machst. Reiß dich los von Garten und Gegend. Fort mit dir. Die Stunde des Aufbruchs, sie ist gekommen.“ Die Reise führt von der Pariser Peripherie (Handkes aus seinen Büchern gut bekannten Wohnort Chaville) über die Gare Saint-Lazare in die Picardie (wo Handke vor Längerem ein einsames Haus erworben hat).
Auf der Zugreise, die den älteren Mann mit einer desinteressierten Abweisung seiner weiblichen Mitreisenden konfrontiert, mit der er nicht gut umgehen kann („Ich spürte, wie ich in eine Art Wut geriet; wie ich dran war, das Weibszeug zu beschimpfen, weil es so gar nicht war, wie es in meinen Augen sein sollte.“), stößt er auf eine junge Frau, die er für „seine Obstdiebin“ hält - oder aber ihre Doppelgängerin. Sie hat, wie sich allmählich herausstellt, dasselbe Reiseziel, wird aber eine andere Route nehmen. Es sind Vater und Tochter, die zum Sohn bzw. Bruder unterwegs sind, wo die Mutter der beiden Kinder ein Familientreffen anberaumt hat. Den beiden Geschwistern gönnt Handke Namen, Alexia und Wolfram (ein Zitat von Wolfram von Eschenbach findet sich zum Auftakt), die Mutter wird lediglich „die Bankfrau“ genannt.
In der Folge wechselt die Erzählung mehrfach die Perspektive. Nicht nur der Vater, auch die Tochter (ein „weiblicher Hamlet“) ist auf ihre ganz eigene Weise unterwegs, vorzugsweise querfeldein und abseits herkömmlicher Reiserouten. In seinen hohen Erzählton, mit dem er noch den unscheinbarsten Laubblättern die Aura des Unikats zu verleihen versteht (Lieblingswendung: „wie nur je eine“), baut Handke diesmal erstaunlich viel Ironie ein: „Sah sich denn die Obstdiebin in einer Art von Mission? Wünschte, gar wollte sie denn das Obstdiebestum eingeführt als eine neue olympische Disziplin? Nicht völlig unsinnig bei all den neu eingeführten olympischen Disziplinen.“
Unmerklich gelingt es Handke, den Leser zum Komplizen, zum Gefährten der doppelten Reise zu machen. Er bietet dafür auch allerhand auf: ausführliche Beschreibungen von Gegenden wie dem Vexin, den Ufern der Oise, den Aulandschaften der Viosne und Provinznestern wie Courdimanche oder Chars; Wildwechsel vom Goldfasan bis zur Wildschweinsippe „im Wildschweinsgalopp“; kurze Rekurse auf Theater- (Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“) und Filmgeschichte (von Bressons „Pickpocket“ über Eric Rohmer bis zu John Fords „Die Früchte des Zorns“).
Auch an ungewöhnlichen Begegnungen ist kein Mangel. Alexia gerät u.a. in eine nächtliche Totenwache, an einen Tischfußball spielenden alten Herbergsvater, einen Bucheckernbrotbäcker, eine künftige Krimiautorin und an einen Pizzaboten, der sich als Waisenknabe erweist und als „Valter“ („Walter“ mit „Vogel-Vau“) ihr vorübergehender Begleiter wird. Er zieht mit ihr durch die Wälder und die Auen, kommt ihr in der einzigen gemeinsamen Nacht zwar nahe, wird aber nicht ihr Liebhaber: „Eine übliche Vereinigung zwischen den zwei Geschlechtern bleibt außer Betracht.“
Dafür, dass diese Reise in die Provinz gleichzeitig eine Weltreise wird, sorgt das „Café de‘ l Universe“, ein Restaurant, in dem Speisen aus Madagaskar serviert werden, und eine von einem Kurden betriebene Kebabbude. Dort wird ein Fußballspiel übertragen. Die Elfenbeinküste schlägt Mali 3:1.
Wie ernst Handke das alles wirklich meint oder sich dabei auch ein wenig auf die Schaufel nimmt, ist nicht immer klar zu durchschauen. Klar ist dagegen, dass er das Selbstporträt des Erzählers als alter Mann, der väterliche Ratschläge an die reisende Tochter nicht unterdrücken kann („Und eins noch: eine warme Mahlzeit am Tag. Den Busfahrplänen mißtrauen. Die Landkarten ordentlich zufalten. Zwei Paar Socken anziehen ...“), der „Amateuranthropologe“ und „Geograph ohne Orientierungssinn“ genannt wird, zwar liebevoll, aber auch augenzwinkernd und selbstkritisch zeichnet.
Das Ende der dreitägigen „einfachen Fahrt ins Landesinnere“ (wie der Untertitel des 560-seitigen Romans lautet) ist erstaunlich friedvoll, ja nahezu idyllisch. Zum Familienfest finden tatsächlich alle rechtzeitig ihren Weg zum Festzelt, vor dem man sich gemeinsam dem Betrachten des Sonnenuntergangs widmet, ehe man der Familienfestrede des an sich eigenbrötlerischen Vaters lauscht. „Es lebe das Zwecklose - es muß nur praktiziert werden. Unsinniges machen und sehen, was dabei herauskommt.“ Keine Erwiderung der Bankfrau. „Sie schwieg mütterlich.“ Und die Tochter sinnt nach, „was sie doch in den drei Tagen ihrer Fahrt ins Landesinnere alles erlebt hatte“: Seltsam war das alles. „Bleibend seltsam. Ewig seltsam.“
Peter Handke wird am 6. Dezember 75 Jahre alt. Wenn dieser versöhnliche literarische Vorbote nicht trügt, könnte das eine schönes Familienfeier werden.
(S E R V I C E - Peter Handke: „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“, Suhrkamp Verlag, 560 Seiten, 35 Euro)