Warum Malis und Nigers Hirten in den Jihad ziehen
Niamey/Bamako (Reuters) - Als Doundou Chefou als Jugendlicher erstmals zur Waffe griff, tat er es aus dem gleichen Grund wie viele andere Hi...
Niamey/Bamako (Reuters) - Als Doundou Chefou als Jugendlicher erstmals zur Waffe griff, tat er es aus dem gleichen Grund wie viele andere Hirten der Volksgruppe der Fulbe entlang der Grenze zwischen Niger und Mali: Er wollte sein Vieh schützen. Chefou hatte damals, vor einem Jahrzehnt, nichts gegen den Staat Niger, ganz zu schweigen davon, dass er einen Groll gegen die USA gehegt hätte.
Sein Zorn richtete sich allein gegen die Viehdiebe vom Volk der Tuareg. Dennoch führte Chefou Anfang Oktober die tödliche Attacke einer Gruppe von mehreren Dutzend Rebellen, die mit der Extremistenmiliz IS verbündet ist, auf eine Patrouille aus amerikanischen und nigrischen Soldaten an. Vier US-Soldaten und vier Soldaten aus Niger wurden getötet. Das Pentagon untersucht den Vorfall.
Kalla Mountaris Laune sinkt, wenn man ihn auf Chefou anspricht. „Er ist ein Terrorist, ein Bandit, er will Niger Schaden zufügen“, sagt der nigrische Verteidigungsminister in seinem Büro in der Hauptstadt Niamey. „Wir verfolgen ihn, wir fahnden nach ihm. Falls er jemals wieder einen Fuß nach Niger setzen sollte, wird er neutralisiert.“ Doch Chefous Geschichte steht beispielhaft für die der meisten Jihadisten im staubigen Grenzgebiet zwischen Mali, Niger und Burkina Faso, die früher mit radikalem Islam nichts am Hut hatten und lediglich ihre Kühe hüten wollten, heute aber Anschläge verüben. Der Westen tut deshalb gut daran, daraus Lehren für den Kampf gegen den Terror in dieser Region Afrikas zu ziehen.
Auch die deutsche Bundeswehr hat knapp 1000 Soldaten im Norden Malis im Einsatz. Sie sind Teil der Blauhelmtruppe MINUSMA, die die Einhaltung des Friedensabkommens zwischen Regierung und Rebellen überwacht. Die deutschen Soldaten sind im nordmalischen Gao stationiert, genau im Dreiländereck der Staaten. Drei österreichische Bundesheer-Soldaten sind an der MINUSMA-Mission beteiligt.
Aktuell verfügt der dortige IS-Ableger nach Einschätzung von Experten über weniger als 80 Kämpfer und ist damit noch relativ klein. Dies galt allerdings in der Vergangenheit auch für die mit Al-Kaida verbündeten Gruppen in der Region, die sich die Wut der Einheimischen über die Verhältnisse zunutze machten und weite Teile Malis 2012 schließlich überrollten. Die USA stocken ihre Truppen in Niger und anderen Nachbarstaaten Malis schon seit einigen Jahren auf, da sie befürchten, dass die Mischung aus Armut, Korruption und schwachen Staaten dort die perfekte Grundlage für das Erstarken extremistischer Gruppen ist.
Tuareg und Fulbe leben in der Region schon seit Jahrhunderten als Nomaden und Händler nebeneinander. Das Gebiet der Tuareg waren vor allem die Dünenlandschaften und Oasen der Sahara, die Fulbe dagegen lebten hauptsächlich im Sahel - dem Savannen-Gürtel, der sich von Senegal bis Sudan quer durch Afrika erstreckt und den Übergang von der Wüste im Norden zu den feuchteren Regionen weiter südlich bildet. Die modernen Staaten, die sich rings um sie bildeten, spielten für Tuareg wie Fulbe dabei in der Vergangenheit kaum eine Rolle. Meist lebten sie friedlich nebeneinander her, manchmal kam es zu Streit über die raren Wasserlöcher. Erst mit der zunehmenden Verbreitung von Waffen in der Region endeten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen immer öfter tödlich.
Wendepunkt war der Sturz des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi 2011, zu dem der Westen maßgeblich beitrug. Viele Tuareg, die vorher als Söldner für Gaddafi gekämpft hatten, kehrten danach in ihre Heimat zurück. Mit sich brachten sie den Inhalt der Waffendepots, die sie in Libyen geplündert hatten. Einige der Heimkehrer starteten in Mali eine Rebellion, um in der Wüste im Norden einen eigenen Tuareg-Staat zu errichten. Mit Al-Kaida verbündete Jihadisten, die schon seit Jahren in Mali operierten, kaperten diese Bewegung jedoch schon bald.
Bis dahin hatten die Islamisten in der Region weitgehend von den Lösegeld-Einnahmen bei Entführungen gelebt. 2012 aber stürmte die Bewegung durch den Norden Malis, eroberte die Großstädte und brachte die Region rasend schnell unter ihre Kontrolle. Um den raschen Vormarsch der Islamisten in Richtung Süden zu stoppen, wo der Großteil der Malier lebt und der Boden fruchtbarer ist, schickte Frankreich schließlich Truppen, die die Lage 2013 wieder unter Kontrolle brachten. Inmitten von Gewalt und Chaos kam es jedoch auch zu Auseinandersetzungen zwischen Tuareg und Fulbe: Tuareg schossen auf Fulbe - und diese wandten sich an die Islamisten, um ebenfalls Waffen und Training zu bekommen.
Die Lage eskalierte. Im November 2013 sei ein junger nigrischer Fulbe mit einem Tuareg-Führer über Geld in Streit geraten, erinnert sich Boubacar Diallo, der Vorsitzende eines Viehzüchter-Verbandes der Fulbe an der malischen Grenze, der inzwischen in Niamey lebt. Der alte Mann habe den jüngeren verprügelt und weggejagt. Doch der junge Fulbe sei mit einer Kalaschnikow zurückgekommen, habe den Tuareg-Führer getötet und seine Frau verletzt. Sein Opfer sei jedoch der Onkel eines mächtigen malischen Kriegsherrn gewesen. Als Vergeltung hätten schwer bewaffnete Tuareg binnen Tagen 46 Fulbe entlang der nigrisch-malischen Grenze umgebracht.
„Das war der Zeitpunkt, als den Fulbe in der Gegend klar wurde, dass sie mehr Waffen zu ihrer eigenen Verteidigung brauchen“, sagt Diallo. Denn die Polizei nahm wegen solcher Verbrechen nach Angaben aus Sicherheitskreisen fast nie Ermittlungen auf. „Die Tuareg waren bewaffnet und stahlen die Rinder der Fulbe“, erklärt auch Nigers Innenminister Mohamed Basum im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters. „Die Fulbe sahen sich daher gezwungen, sich zu bewaffnen.“
Gandou Zakaria erforscht an der Universität von Niamey seit Jahren, was Jugendliche zum Jihad treibt. „Die Religion steht dabei ganz am Ende der Liste“, berichtet er. Auslöser seien stattdessen meist Probleme vor Ort. Während die Tuareg in Mali und Niger seit langem von einem eigenen Staat träumten und manchmal auch dafür zu den Waffen griffen, gehe es den Fulbe meist mehr um die Sicherheit ihrer Gemeinschaft und ihrer Herden, die ihre Lebensgrundlage seien. „Bei den Fulbe ist es das Gefühl der Ungerechtigkeit, des Ausgeschlossenseins, der Diskriminierung und der Zwang, sich selbst zu verteidigen“, sagt Zakaria.
Ein Radikaler, der sich diese Unzufriedenheit besonders geschickt zunutze machte, war laut Sicherheitskreisen Adnan Abu Walid al-Sahrawi. Der arabischsprachige Nordafrikaner habe Dutzende Fulbe für die Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika (Mujwa) rekrutiert, die 2012 locker mit Al-Kaida verbunden war und Gao sowie die Gegend bis zur nigrischen Grenze kontrollierte. Nachdem die französischen Truppen die Islamisten 2013 aus den malischen Städten vertrieben hatten, ging Sahrawi für kurze Zeit ein Bündnis mit dem Al-Kaida-Veteranen Mokhtar Belmokhtar ein. Heute ist Sahrawi das Gesicht des IS in der Region.
„Da war etwas in seinen Reden, was die Jugend angesprochen, ihr Gefühl der Ungerechtigkeit aufgegriffen hat“, sagt ein Vertreter aus nigrischen Regierungskreisen über Sahrawi. Wie Chefou bei Sahrawi landete und einer seiner Leutnants wurde, ist unklar. Abgehärtet durch das Leben im Sahel wie viele andere junge Fulbe, sei Chefou wegen Waffenbesitzes und der Beteiligung an Gewalt immer wieder im Gefängnis gesessen, heißt es in Regierungskreisen. Diallo, der Chefou mehrmals traf, beschreibt ihn dagegen als sehr ruhig, sehr einfühlsam. „Ich war überrascht, dass er ein Milizenführer wurde“, sagt Diallo.
Was das Ziel der gemischten amerikanisch-nigrischen Patrouille am 4. Oktober war, darüber gehen die Aussagen auseinander. Man habe Chefou ergreifen wollen, heißt es in nigrischen Sicherheitskreisen. Auf US-Seite ist dagegen von einem Aufklärungseinsatz die Rede. Die US-Soldaten hätten bei dem Überfall auch ein Fahrzeug des Geheimdienstes CIA verloren, das mit Überwachungstechnik ausgerüstet gewesen sei, berichteten US-Medien. Eine Drohne habe das Gefecht live übertragen. Die angreifenden Fulbe dagegen fuhren Motorräder und schossen mit den Sturmgewehren, die sie irgendwann einmal zum Schutz ihrer Rinderherden beschafft hatten.