Die gute Geschichte: Recht auf Selbstbestimmung
Rund um das Thema Demenz geht es im 12. Türchen der Guten Geschichten. Petra Jenewein vom Caritas Demenz-Servicezentrum erzählt sie.
Ein Ehepaar sitzt bei mir. Die Ehefrau und Tochter einer Mutter mit Demenz wirkt angespannt. Glatte Haut, dezent geschminkt, eine gutaussehende Dame, die mitten im Leben zu stehen scheint, bereit, ihre Pension nun aktiv und lebenswert zu gestalten. Und die sich eng verbunden fühlt mit ihrer im selben Haus lebenden 90-jährigen Mutter, das ist unmittelbar für mich spürbar. Neben ihr leicht abgewandt, Beine gekreuzt ihr Ehemann. Auch für ihn ist es klar, dass seine Schwiegermutter die größtmögliche innerfamiliäre Unterstützung bekommt, auch wenn die Beziehung zu ihr sein Eheleben lang angespannt war: „Sie hat immer ihren Willen durchgesetzt, das was sie wollte, hatte zu geschehen“, sagt er.
„Und jetzt erzähle ich Ihnen nur eine beispielhafte Geschichte aus unserem Alltag, Frau Jenewein“, fährt er nun fort, „meine Schwiegermutter schaltet wiederholt die Heizung aus und sitzt dann in ihrer dreizehn Grad kalten Wohnung.“ „Sie habe das nicht gemacht, sie wisse auch nicht, warum es nun kalt sei, obwohl so kalt sei es ja gar nicht, sie wolle das so“, erklärt sie uns dann. „Sie war ein Leben lang eine genügsame und sparsame Frau, müssen Sie wissen. Natürlich ist mir klar, dass sie dieses komplizierte Heizungsregelwerk im Keller nicht mehr ausreichend versteht, aber sie schafft es irgendwie, es lahm zu legen. Nicht nur einmal mussten wir einen Techniker ins Haus holen. Was sollen wir tun? Wir können sie doch nicht erfrieren lassen. Wir können aber auch nicht halbstündlich die Heizung prüfen, oder? Dürfen wir ihre Kellertür zusperren? Und wenn ja, was sollen wir ihr als Erklärung geben? Logische Erläuterungen spießen sich mit ihrer Demenzerkrankung, das geht nicht mehr. Wo endet das Recht auf Selbstbestimmung? Bitte sagen Sie mir das! Sie wird furchtbar aufgebracht sein“, erzählt er.
Ich halte kurz inne, seine Fragen hängen anklagend in der Luft. Seine Frau hat still zugehört, manchmal fast unmerklich genickt. Ich versuche es hiermit: „Fünf Jahre, sagen Sie, plagen Sie sich nun mit Fragen dieser Art? Schön, dass Sie ihrer Mutter und Schwiegermutter so achtsam zur Seite stehen. Wo die Selbstbestimmung endet? Ich weiß es nicht. Ich wünsche mir aber jedenfalls für meine Pflegebedürftigkeit eines Tages zahlreiche Begleiter/-innen wie sie beide, die nicht unbedacht mein Selbstbestimmungsrecht missachten. Trotz aller Widrigkeiten versuchen Sie stets aufs Neue die Wünsche der alt gewordenen Frau zu erfüllen und ihre Entscheidungen zu respektieren.“ Ich fahre fort: „Zuweilen hilft vielleicht die Frage: Ist Gefahr im Verzug? Und im Falle der demolierten Heizung würde ich meinen: Ja, Gefahr im Verzug und deswegen ist es sinnvoll, sich auf die Suche nach einem gelinden Gegenmittel zu begeben. Ja, ich denke es ist notwendig, Sie können die Kellertür versperren. Oder es findet sich die Möglichkeit, die Schaltknöpfe der Heizung zu verbarrikadieren, was den Vorteil hätte, dass ihre Mutter weiterhin in ihren unversperrten Keller gehen kann.“ Auf Herrn M.s Stirn vermehren sich die Falten. „Ja, aber…“, meint er nachdenklich, „aber, wenn sie ganz wild beleidigt mit uns ist, dann sitzen wir sofort wieder hier bei Ihnen, das verspreche ich.“ Das Ehepaar lacht. Ich schmunzle.
Demenz bedeutet nicht: „Es geht keinesfalls mehr“, sondern „Es geht so viel und alles was geht, soll auch gehen können“. Menschen mit kognitiven Veränderungen wollen beteiligt sein und können es auch. Unsere Unterstützung brauchen Sie dennoch, aber in einem zurückhaltenden, verständnisvollen und leisen Ausmaß.