SPD-Führung kämpft um Mehrheit für Verhandlungen
Berlin (APA/Reuters) - Fünf Tage und eine Nacht rang die SPD-Spitze mit der Union um die Eckpunkte für eine neue Koalition, nun kämpft sie u...
Berlin (APA/Reuters) - Fünf Tage und eine Nacht rang die SPD-Spitze mit der Union um die Eckpunkte für eine neue Koalition, nun kämpft sie um die eigene Parteibasis. Das Unbehagen angesichts eines neuen Regierungsbündnisses unter Kanzlerin Angela Merkel ist so groß, dass offen ist, ob ein Sonderparteitag am Sonntag grünes Licht für Koalitionsverhandlungen geben wird.
Doch die Chancen von Parteichef Martin Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles, eine Mehrheit der Delegierten für sich zu gewinnen, stehen nicht so schlecht, wie es die lautstarke Kritik etwa aus der SPD-Nachwuchsorganisation Jusos vermuten ließe. Dafür sprechen die Positionierung einflussreicher SPD-Verbände wie auch der Beifall von Gewerkschaften und Kommunen für die SPD-Sondierer.
DER PARTEITAG
Zum Parteitag im Kongresszentrum im einstigen Bonner Regierungsviertel sind am Sonntag 600 Delegierte eingeladen. Zudem sind die 45 Mitglieder des Parteivorstands stimmberechtigt. Die große Mehrheit der Parteiführung steht hinter der Empfehlung der Sondierer unter Schulz und Nahles, in Koalitionsverhandlungen einzusteigen: Mit 32 Ja- und sechs Nein-Stimmen billigte der Vorstand am Freitag die Beschlussvorlage.
DIE PARTEIFÜHRUNG
Kaum war der Vorstandsbeschluss gefasst, vermittelten die Vizevorsitzenden Ralf Stegner und Thorsten Schäfer-Gümbel den Eindruck, sie gingen zu der von ihnen mitgetragenen Entscheidung auf Distanz: Sie forderten, in den Koalitionsverhandlungen Änderungen durchzusetzen. Das sah nach Rissen in der engeren Parteiführung aus. Doch beide plädieren weiter für Koalitionsverhandlungen. Stegner verbreitete am Dienstag per Twitter: „Ich werbe auf Basis der Sondierung für Koalitionsverhandlungen mit der Union, auch wenn meine Skepsis gegenüber der GroKo nach wie vor groß ist. Wir sollten hart verhandeln - da muss noch mehr kommen!“.
Schäfer-Gümbel, der im Herbst bei der Wahl in Hessen die schwarz-grüne Regierung kippen will, sieht im Sondierungspapier „eine gute Grundlage für Koalitionsverhandlungen“, in denen „es sicherlich auch noch Veränderungen geben“ werde. In der SPD-Spitze gibt es aber auch Mahnungen, die Delegierten nicht mit Versprechen zu ködern, die am Ende nicht einlösbar sein könnten. Die einflussreiche rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die an der Basis große Sympathie genießt und bei der Wahl der SPD-Vizechefs im Dezember das beste Ergebnis erzielte, sagte im ZDF: „Wir machen der SPD nicht vor, dass wir alles auf den Kopf stellen können. Das wäre nicht korrekt. Die Sondierungsergebnisse sind Ergebnisse nach langem Ringen.“
DIE KRITIKER
Als Gegner einer Großen Koalition sind vor allem die Jusos, und das „Forum Demokratische Linke“ (DL21) unter der SPD-Abgeordneten Hilde Mattheis unterwegs. Die Jusos stellen nach eigenen Angaben beim Parteitag etwa 80 bis 90 Delegierte, die ihnen soweit verbunden sind, dass sie mutmaßlich im Sinne der Juso-Spitze abstimmen. Sie stehen aber keineswegs für die gesamte Parteilinke in der SPD. Deren Wortführer ist neben Stegner und Schäfer-Gümbel auch Matthias Miersch, Chef der Parlamentarischen Linken, die die größte Abgeordnetengruppe in der Bundestagsfraktion ist. Miersch wirbt mit dem Argument für Koalitionsverhandlungen, ein Nein des Parteitages beraubte die Mitglieder der Möglichkeit, am Ende der Gespräche abzustimmen.
Die Nein-Stimmen im Parteivorstand kamen etwa von den Bundestagsabgeordneten Wiebke Esdar aus Bielefeld und Serpil Midyatli aus Schleswig-Holstein. „Der Kompromiss beim Familiennachzug ist definitiv nicht hinnehmbar“, sagt Midyatli. Es gebe klare Parteibeschlüsse, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit nachgeordnetem Schutzstatus nicht über März hinaus ausgesetzt bleiben solle. In den Sondierungen stimmte die SPD aber zu, dass diese Flüchtlinge ihre engste Familie nur in Härtefällen nachholen dürfen und die Zahl der Nachzügler 1.000 im Monat nicht überschreiten dürfe. Esdar zeigte sich enttäuscht, dass der Einstieg in die Bürgerversicherung verwehrt blieb und sich die SPD in der Steuerpolitik nicht durchsetzen konnte.
DIE LANDESVERBÄNDE
Der Riss zwischen Befürwortern und Gegnern von Koalitionsverhandlungen zieht sich durch die Landesverbände. Die bayerische SPD-Chefin und Bundesvizechefin Natascha Kohnen etwa warb am Sonntag für Verhandlungen: „Ich bin zu der Entscheidung gekommen, dass mir diese gesamten Ergebnisse es wert sind, noch mal in tiefere Gespräche zu gehen.“ Ihr Generalsekretär Uli Grötsch stimmte indes im Parteivorstand mit Nein. Nach Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen stellt Bayern auf dem Bundesparteitag die drittgrößte Delegiertengruppe (78).
In Niedersachsen, dem zweitgrößten Landesverband, sprach sich dagegen die SPD-Spitze mit 16 Stimmen bei drei Enthaltungen klar für Verhandlungen aus. Die 81 Delegierten des Landes sind wie alle anderen an Beschlüsse ihrer Landesvorstände zwar nicht gebunden. Bei einem Treffen vieler niedersächsischer Delegierter am Wochenende gab es aber nach Einschätzung eines Teilnehmers trotz wortreicher Kritik „überwiegend eine zustimmende Tendenz“.
Die hessische SPD unter Schäfer-Gümbel als viertstärkster Verband mit 72 Delegierten scheint zerrissen. Vom Landesparteirat wurde dem Landesvorstand aufgetragen, bis Mittwoch in einem Papier die Kritikpunkte am Sondierungspapier zusammenzufassen und diese auf dem Parteitag einzubringen. Der strukturell eher konservative SPD-Bezirk Nordhessen sprach sich für Koalitionsverhandlungen aus, verlangte aber auch, die Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz und nach einer Bürgerversicherung in den Verhandlungen erneut aufzugreifen.
Das größte Gewicht hat die NRW-SPD mit 144 Delegierten. Deren Landeschef Michael Groschek wurde von Schulz in die Sondierungen eingebunden, so dass Groschek nun für die Koalitionsverhandlungen wirbt. Eine Empfehlung des NRW-Vorstandes ist aber nicht geplant. Man wolle die Delegierten überzeugen, nicht überreden, sagt Groschek. Schulz und Nahles warben am Montagabend in Dortmund direkt bei einer Delegiertenvorbesprechung um deren Rückhalt. Teilnehmer berichteten von einer „sehr lebendigen und fairen Diskussion“ zwischen Gegnern und Befürwortern von Koalitionsverhandlungen. Ein ähnliche Veranstaltung ist am Dienstagabend in Düsseldorf.
In mehreren, überwiegend kleineren Landesverbänden haben sich Parteitage oder Vorstände gegen Verhandlungen über eine Große Koalition ausgesprochen: In Berlin fiel das Votum im Landesvorstand am Montagabend mit 21 zu acht Stimmen sehr deutlich aus. Die 23 Parteitagsdelegierten aus Berlin sind daran aber nicht gebunden. Auch aus Sachsen-Anhalt (sechs Delegierte) gab es eine knappe Ablehnung von Verhandlungen. Die SPD in Thüringen (sieben Delegierte) legte sich schon im vorigen Jahr auf Anti-Groko-Kurs fest. Bei einer Mitgliederveranstaltung war die Stimmung am Samstag laut Teilnehmern weiter kritisch. Klar für Koalitionsverhandlungen stimmte am Montag die SPD-Spitze in Brandenburg mit neun zu zwei Stimmen (zehn Delegierte). In Schleswig-Holstein (24) unter Stegner ist kein Votum der SPD-Spitze geplant: Eine Mitgliederkonferenz am Montagabend in Neumünster bot laut Teilnehmern ein gespaltenes Bild.
In anderen Landesverbänden sind Schulz und Generalsekretär Lars Klingbeil weiter auf Werbetour: Schulz bemüht sich am Mittwoch um Bayerns Delegierte und am selben Tag in Mainz um die Rheinland-Pfälzer, die mit Dreyer auf Verhandlungskurs sind. Für Klingbeil stehen am Dienstag die Baden-Württemberger in Stuttgart und am Freitag die Bremer auf dem Programm.
DIE UNTERSTÜTZER
Als hilfreich wird in der SPD-Spitze empfunden, dass es aus den Gewerkschaften und von den Kommunen Rückhalt für weitere Verhandlungen gibt. Viele Parteitagsdelegierte engagieren sich gewerkschaftlich oder in der Kommunalpolitik. Wenn der DGB und die drei größten Gewerkschaften (IG Metall, Verdi, IG BCE) für Verhandlungen plädieren, dürfte das nicht ohne Wirkung bleiben - wie auch das Plädoyer der kommunalen Spitzenverbände.