Banger Blick nach Bonn: Kippt „GroKo“ vor dem Start?
An der Parteibasis regt sich Widerstand gegen eine Neuauflage der Großen Koalition in Deutschland. SPD-Chef Martin Schulz muss am Sonntag vor 600 Delegierten das Sondierungsergebnis verteidigen.
Berlin – Für Martin Schulz geht es an diesem Sonntag ums Ganze. Vor 600 Delegierten eines Sonderparteitags in Bonn muss der SPD-Chef das Sondierungsergebnis verteidigen, das die Unterhändler der deutschen Sozialdemokraten bei ihren Gesprächen mit Christdemokraten und Christsozialen vorige Woche in Berlin erzielt haben.
Es geht um eine neue deutschen Regierung, und nur wenn der Parteitag zustimmt, können Koalitionsverhandlungen geführt werden. Scheitert Schulz, ist die politische Zukunft des früheren EU-Parlamentspräsidenten ungewiss. Und Deutschland stünde vier Monate nach der Bundestagswahl vom September vor großer politischer Ungewissheit.
Geben die Delegierten Schulz hingegen Grünes Licht, dann könnte eine neue deutsche Regierung unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende März stehen. Es wäre die Fortsetzung der „GroKo“, der Großen Koalition, die Deutschland seit 2013 regiert hat und deren Minister nur noch geschäftsführend im Amt sind.
Widerstand an der Parteibasis
An der Parteibasis regt sich Widerstand. Ein Landesparteitag in Sachsen-Anhalt und der Vorstand der Berliner SPD haben bereits gegen Koalitionsverhandlungen votiert. Zu den entschiedensten Widersachern des 62-jährigen Schulz ist der Vorsitzende der Jungsozialisten, Kevin Kühnert (28), geworden. „Viele – und zwar nicht nur bei den Jusos – sind unzufrieden mit dem Sondierungspapier“, sagte der Chef der SPD-Jugendorganisation der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Die Kritiker finden, dass in der am vorigen frühen Freitagmorgen nach fünftägigen Sondierungen erzielten 28-seitigen Übereinkunft nicht genügend SPD-Anliegen durchgesetzt wurden. Dazu zählt zum Beispiel die sogenannte Bürgerversicherung, die das derzeitige System privater und gesetzlicher Krankenversicherungen in Deutschland ersetzen soll, das nach Ansicht der Sozialdemokraten eine „Zwei-Klassen-Medizin“ schafft.
Merkels Parteifreunde wollen daran nicht rütteln. Auch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes konnten die Sozialdemokraten im Sondierungspapier nicht verankern. Bei der Begrenzung der Zuwanderung von Flüchtlingen habe die SPD-Seite wiederum zu sehr den Vorstellungen der Christsozialen nachgegeben, wird kritisiert.
SPD wollte eigentlich keine „GroKo“-Neuauflage
Eine Neuauflage der „GroKo“ hatte die SPD nach der Parlamentswahl am 24. September eigentlich gar nicht gewollt. Schulz war als Kanzlerkandidat krachend gescheitert und die SPD auf 20,5 Prozent abgestürzt. Auch schon nach der Großen Koalition in der Wahlperiode 2005 bis 2009 hatte die SPD massiv Stimmen verloren, so dass sich viele Genossen fragen, was von Deutschlands ältester Partei nach einer weiteren Regierungszeit an der Seite Merkels noch übrig bleibt. Es gebe einen starken „Widerwillen des Ochsen SPD gegen das Joch Merkel“, ätzte das konservative Magazin „Cicero“.
So wollte die SPD eigentlich in der Opposition neue Kräfte gewinnen. Merkel führte Sondierungen mit Liberalen und Grünen über eine „Jamaika“-Koalition, doch diese scheiterten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ein langjähriger SPD-Politiker, und auch das europäische Ausland drängten auf eine baldige Regierungsbildung. Ein SPD-Parteitag im Dezember machte den Weg frei für die Sondierungen.
Nun ist es vor allem die SPD-Spitzenriege, die das Sondierungspapier verteidigt. Bundestags-Fraktionschefin Andrea Nahles warf den Gegnern vor, das Sondierungsergebnis „mutwillig“ schlechtzureden. Der deutsche Justizminister Heiko Maas warb für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen, und Außenminister Sigmar Gabriel gab zu verstehen, dass er den Parteitag für keine gute Idee halte.
Für Schulz kommt es jetzt unter anderem darauf an, seinen eigenen Landesverband Nordrhein-Westfalen zu überzeugen, denn dieser stellt in Bonn allein 144 Delegierte. Von einem „Schicksalstag für Schulz“ sprach die Berliner Morgenpost mit Blick auf den Parteitag. Juso-Chef Kühnert versicherte zwar, dass auch bei einem Nein zur „GroKo“ keineswegs das SPD-Spitzenpersonal ausgetauscht werden müsse, doch gibt es in Deutschland starke Zweifel, dass Schulz ein solches Votum politisch überleben würde.
Kommt es nicht zur „GroKo“, wären auch Neuwahlen nicht ausgeschlossen – mit unabsehbaren Folgen. „Kippt Schulz, wackelt Merkel“, kommentierte am Dienstag das Handelsblatt. (APA/dpa)